Allgemeine
fiathschli
für
igü
Portrnitmaier.
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Wollte man bei einer langen Sitzung (und sie scheinen dem
Modell immer so) zu dem gewöhnlichen Niittel, die Zeit zu ver-
kürzen, seine Zuiincht nehmen, dass man den dritten Theil der
Zeit hindurch vorlesen lässt, so wird man diesen Zweck nur zum
Theil erreichen.
Von diesem Hülfsmittel muss man blos Gebrauch machen,
wenn man Parthieen malt, die zum Ausdruck nichts beitragen,
als Ohren, Hals, Brust, Schultern, Haare, und überhaupt alle
Nebendinge; allein in Betreff des Gesichts kann ich nicht dazu
rathen, und zwar aus folgender Ursache. Es ist gewiss, dass
eine interessante Lectüre das Modell angenehm zerstreut, allein
wenn diese Lectüre nicht von leichter Art, sehr geistreich und
zugleich sehr heiter ist, und die Person, die liest, nicht recht gut
vorliest, wie dieses selten der Fall ist, so wird man wenig dabei
gewinnen. In der That, das Modell wird weniger beweglich, aber
sein Ausdruck stumm sein; die Person, welche hört, empfängt
zwar innerlich die verschiedenen Eindrücke, welche die Lectüre
in ihrem Geist hervorbringt; aber sie sind nur wenig in der Phy-
siognomie sichtbar, die Zuge verhalten sich leidend, weil sie nichts
ausdrücken und nichts aus der Seele der Person selbstimitzuthei-
len haben, und das Modell wird, ausser einem vorübergehenden
Lächeln, weiter nichts als eine nachdenkende und gesammelte
Physiognomie darbieten, die meistentheils sich zur Traurigkeit
neigt, oder wenigstens zur Betrachtung: ein Ausdruck, der nur
bei einer kleinen Anzahl Personen gewöhnlich ist.
Nach dem, was wir eben jetzt auseinandergesetzt haben, ist
es nicht nöthig, uns noch über die Unbequeinlichkeiten auszu-
sprechen, eine lesende Person zu malen. Soll diese Stellung
natürlich erscheinen, so muss Kopf und Körper gegen das Buch
mehr oder weniger geneigt sein: dies raubt dem Maler nicht
allein den Blick des Auges, in welchem der grösstg Theil der
Aehnlichkeit und des Ausdrucks liegt, diese gebeugte Stellung
verändert auch noch durch die Verkürzungen, die sie hervor-
bringt, die wirklichen Proportionen des Gesichts. Der Kopf wird
in der That vorwärts geneigt, wodurch viel mehr von dem oberen
Theile des Kopfes zu sehen ist; die Nase wird viel länger er-
scheinen, im Ykargleich mit dem unteren Theile des Gesichts, das
bouvier, Oelmalerei. 4. Aufl. 18