Allgemeine
Rathschl
äige
für
Portraitmalcr.
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bis man einen Umriss und das dazu Gehörige schnell, geistreich
und vollkommen richtig machen kann. Auch setze ich voraus,
dass man in der Theorie der Schatten kein Fremdling ist, und
dass man lange Zeit nach Gyps und nach der Natur, entweder
auf weissem Papier, oder auf gefärbtem Papier mit weisser Kreide
gehöhet, gezeichnet hat, um die Bedeutung derselben zu begreifen.
Hierauf male man einige Köpfe, Arme, Hände, Brust etc.
nach Gypsabgüssen, dies wird uns für die Behandlung der Farbe
etwas vorbereiten, ohne dass man durch eine Masse farbiger
Töne, wie man sie in der lebenden Natur sieht, zu sehr beschäftigt
würde. Nach dieser Uebung copire man ein oder zwei Gemälde,
die besten, die man haben kann, und wahle einen männlichen
Kopf von mittlerem Alter, der charakteristisch sowohl in den
Ziigen, als im Ton der Farben ist. Ich will damit nicht sagen,
dass das Colorit des Gemäldes sehr braun, sehr blass oder sehr
roth sein müsse, sondern das Colorit einer Person von guter
Constitution, damit die verschiedenen Töne weniger unbestimmt
und einförmig sind, wie in einigen Fallen, wenn die Oarnation
blass, roth oder überall zu gleichmässig von der Sonne ver-
brannt ist.
Hierauf unternehme man ein Portrait nach der Natur, und
wähle zum ersten Mal ein Individuum zu Modell, das ein solches
Colorit hat, wie das Gemälde, wovon ich eben geredet, aber nur
nicht das Gesicht eines Kindes, noch einer sehr alten, auch nicht
einer jungen Person, denn diese Aufgabe würde zu schwer sein.
Die Kinder sitzen nicht gut und haben keine ausgeprägten Ge-
sichtszüge; alte Leute haben zu viel Einzelheiten, und junge
Personen zu zarte Farbe und Züge. Einem Menschen von reifem
Alter wird das Sitzen weniger schwer, und es ist wahrscheinlich,
dass er besser sitzen wird als jede andere Person, die zu
1) Gut oder schlecht sitzen, heisst, die Stellung und Lage, welche der
Maler gewählt hat, mehr oder weniger lange Zeit aushalten. Man sagt, eine
Person sitzt nicht gut, wenn sich während einer Sitzung von zwei, drei Stunden
ihre Gesichtszüge und der gewölmliche Ausdruck verändert, Ermüdung und
Verdruss zu erkennen ist. Man sagt auch, dass die Person schlecht sitzt, wenn
sie sich beständig bewegt und den Kopf nicht in der Lage beibehält: die V01"
geschrieben ist.