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Spätgotische
Zeit.
Empfindung aus. Etwas später muss jene Passionsfolge entstanden
sein, die aus der Dominikanerkirche in Kolmar in das dortige Museum
kam (Nr. 115-130). Es sind 16 Tafeln, vom Abendmahl bis zur Aus-
giessung des heiligen Geistes, in denen sich die gereifte Einsicht eines
tüchtigen Künstlers zeigt. Gleich der Einzug in Jerusalem bringt
die edle Gestalt Christi, die rnarkigen Typen der Apostel, den ent-
zückend anmutigen Knaben mit dem Palmenzweige; im „Ölberg"
erscheint die prächtige Gruppe der schlafenden Jünger und die reiche
Landschaft. In der „Gefangennahme" fesselt die seelenvolle Schönheit
Christi; ähnlich in der "Kreuzschleppung". Die "Grablegung" zeigt
Tiefe der Empfindung und kunstvollen Aufbau der Gruppe u. s. w.
Die Bilder auf der Rückseite der Passionstafeln haben sehr gelitten.
Die Passion ist ganz in Öl gemalt, für die Luft wurde der Gold-
ton beibehalten. Die Ausführung ist ungleichmässig einzelnes
ist übermalt immerhin mögen Gesellenhände mit thätig gewesen
sein, Rogiers Einfluss tritt schon stark zurück, dagegen machen
sich die hässlichen Typen der Henker und Büttel in Isenmannscher
Art bemerkbar. Der weitere Fortschritt in Schongauers Entwickelung
lag in der Schmeidigung der Formen, in grösserer Gemessenheit
des Ausdrucks. Der Gesichtstypus seiner weiblichen Gestalten wird
feiner, die Körper werden schlanker. Aus dieser Zeit stammen zwei
Altarflügel, jetzt im Museum von Unterlinden zu Kolmar (Nr. 132
bis 136), vermutlich aus dem Antoniterkloster in Isenheim stammend.
Die äussere Seite der beiden Flügel zeigt die Verkündigung, die
innere die Anbetung des Kindes durch Maria und den heiligen
Abt Antonius. Vor Antonius kniet der Donator. Die Maria in der
Verkündigung gemahnt noch an die im Rosenhag, aber der Engel ist
schöner. Die Maria in der Anbetung ist lieblicher als jene. Der
heilige Antonius ist eine mächtige Gestalt mit charaktervollem
Kopf und sorgfältig modellierten Händen. Nur die malerische
Behandlung ist nicht breiter geworden; die Zeichnung wiegt vor.
Schongauer kann als ein echter Vorfahr Dürers gelten; nur fehlte
ihm der grübelnde Tiefsinn des letzteren. Martins Bruder Ludwig,
der seit etwa 1479 in Ulm und etwa seit 1486 in Augsburg ge-
wirkt hatte, übernahm die Werkstatt in Kolmar nach Martins
Tode. Von Ludwigs Werken der Tafelmalerei lässt sich nichts
Bestimmtes nachweisen. Eine Kopie des Münchener Porträts von
Martin Schongauer, von Jos. Moesel 1846 gemalt, befindet sich
unter Nr. 116 im Museum zu Kolmar. Unabhängig von Schon-
gauer hielt sich nur jener Maler, der etwa um 1470 die Maria
unter dem Kreuze mit dem Leichnam des Sohnes auf dem Schosse
für die Pfarrkirche zu Isenheim malte, die von dort in das Museum
zu Kolmar kam (Nr. 161). Monumentaler Aufbau, mächtige Em-
pfindung weisen eher auf norditalienische als auf niederländische