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Anfänge deutscher Renaissance bei Malern und Bildhauern.
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merken. 1) Die Einfassung ist noch gothisch (Fig. 1), und auch auf
den Flügelbildern sieht man gothische Bogenstellungen gemalt?)
Dagegen hat der Künstler den Thron, auf welchem Christus und
Maria sitzen, mit einer Rücklehne von durchbrochenen Arkaden
ausgestattet, welche auf kleinen korinthischen Pfeilern ruhen und
von grösseren korinthischen Pilastern eingefasst werden. Auf
den Kapitälen der Pilaster knieen Engel, welche ausgespannte
'l'eppiche halten; den Abschluss der Balustrade bilden Delphine,
Welche in freiem Rankenwerk enden. Auffallend ist schon an
diesem Blatte, wie überlegen an ornamentaler Fülle und Pracht
die Renaissanceformen den dekorativen Elementen einer fessellos
gewordenen Gothik erscheinen. Dennoch wendet der Künstler
beide Stile neben einander an, und das bleibt fortan für längere
Zeit das Verfahren fast aller deutschen Meister. Sie stehen damit
im Gegensatze sowohl zu ihren italienischen Zeitgenossen, Wie
Zur Auffassung unserer Tage. Wir Modernen, auf Einheit deS
Stils und Reinheit der Formen bedacht, verstehen schwer das
naive Gebahren einer Zeit, der es in erster Linie auf ornamentale
Pracht, auf Bereicherung der Formenwelt ankommt. Schon die
Spättgothik hafte diese Richtung begünstigt, denn seitdem daS
strenge constructive System des Mittelalters sich gelockert hatte,
war selbst mit den eigentlichen Grundelementen der Construetion,
namentlich mit den Gewölbrippen ein Willkürliches ornamentales
Spiel getrieben werden. Diese Richtung musste sich noch stei-
gern, sobald man die Formen einer fremden Architektur kennen
lernte. In Italien hatten die Meister der Renaissance die letzten
Anklänge an das Mittelalter bald überwunden und waren zu eillenl
Stil durchgedrungen, dessen ungemischte Schönheit ein klassischer
Ausdruck des hohen künstlerischen Sinnes ist, welcher damalS
die Nation erfüllte. Ganz anders in Deutschland. Die Wilde
Gährung-, in welcher sich bis tief ins seehzehnte Jahrhundert die
Tendenzen der neuen Zeit gegen die Ueloerlieferungen des Mittel-
alters durchzukämpfen hatten, liessen ein so reines, S0 all-
gemeines Schönheitsgeftihl nicht aufkommen. Alle nordischen
Schöpfungen der Zeit tragen mehr oder minder das zwiespältige
Wesen der Epoche an der Stirn. Stilreinheit, höchste Läuterung
der Form dürfen wir daher hier nirgends erwarten; W011i aber
eine Kraft und Lebensfülle, welche, unbekümmert um all diese
Gegensätze, das scheinbar Widerstrebende mit frischem Sinne
1) Marggraffß Katalog der Augsb. Gemäldegalerie NIQÜ-
Durchzeichnung, nach welcher unsere Abbildung angefertigt 1st,
ich der Güte der Herren E. von Huber und Sesar.
2) Die
verdanke