Kapitel.
Gesammtbild
der
deutschen Renaissance.
Ehe wir zur Betrachtung der einzelnen Denkmäler schreiten,
haben wir ein Gesammtbild der deutschen'Renaissance zu ent-
werfen, denn erst aus dem Ganzen vermögen wir die Stellung
und Bedeutung des Theils zu erkennen. Ihre richtige Beleuch-
tung erhält aber die deutsche Renaissance aus dem Vergleich
mit der italienischen und französischen. Die drei Hauptcultur-
völker im Centrum Europas sind die ausschliesslich entscheiden-
den für den Gang der künstlerischen Entwicklung in Architektur,
Plastik und Malerei gewesen. Wie jedes von ihnen sich zu den
grßssen Richtungen, in denen die Zeiten sich bewegen, gestellt
hat, ist von durchschlagender Wichtigkeit.
In der Renaissance stehen die beiden nordischen Nationen
als empfangende der italienischen gegenüber. Die antike Kunst,
S0 wie Italien sie auffasste und für seine nationalen Bedürfnisse
umgestaltete, bleibt für alle übrigen Völker das Vorbild. Sie
entlehnen also aus zweiter Hand und darin besteht ihr gemein-
samer Gegensatz zu Italien. Aber damit ist auch das Gemein-
same unter ihnen erschöpft. In der Auffassung und Durch-
führung des Ueberlieferten stellen sich alsbald grosse Unterßßhieäe,
selbst Oontraste heraus. In Deutschland wie in Frankreich war
das Mittelalter zu Anfang des 16. Jahrhunderts keineswegs ab-
gethan. Es lebte mit seinen Einrichtungen und seinen Formen
im Herzen der nordischen Völker, wo es festgewurzelt war, noch
eine gute Weile fort. Besonders im Schooss der Städte fand es
am Bürgerthum eifrige Pfiege. Die Formenwelt des spätgothi-
sehen Stils hing "mit dem handwerklichen Geiste, der damals die
ganze Kunstübung durchdrang, innig zusammen. Der spielende
Formalismus der Maasswerke befriedigte den namentlich in
Deutschland stets vorhandenen Hang nach geometrischen Künste-
leien; der erwachende Realismus fand seinen Ausdruck in dem
naturalistisch gewordenen Laubwerk des Stils. Kein Wunder,
dass namcntlißh beim Kirchenbau man noch lange, ähnlich wie
in Frankreich, sich mit den gothischen Constructionen und For-
men begnügte, und dass bis über die Mitte des Jahrhunderts
hinaus gothische Kirchen gebaut wurden. Aber auch der Profan-