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III. Buch.
Die Renaissance in Deutschland.
Allgemeiner Theil.
gestalten sich in der Regel die grossen Schränke für Kleider,
die Truhen für Leinenzeug, die Büifets und Kredenzen. Während
das Mittelalter bei diesen Gegenständen wie überall das con-
structive Gefüge betont und sich mit einem geschnitzten Flächen-
ornament, sei es Maasswerk, sei es Vegetabilisehes begnügt, führt
die Renaissance im Norden ihre Schranke und Kasten als voll-
ständige kleine Bauwerke auf, die mit Pilaster- und Säulen-
stellungen eingerahmt und selbst mit Portalbildungen versehen
werden. Wo dies in maassvoller Weise geschieht, entstehen oft
treffliche Schöpfungen; so der noch edel behandelte, mit dori-
sehen Halbsäulen und einer zierlichen Nische belebte Schrank,
welchen Ortwein im ersten Hefte seiner Sammlung mittheilt, wah-
rend der im zweiten Heft enthaltene Schrank vom Jahre 1541
den schlichten mittelalterlichen Aufbau in Verbindung mit elegan-
ten Renaissance-Ornamenten zeigt!) Eins der prachtvollsten Bei-
spiele dieser älteren Weise, die ihre Dekoration noch nicht
unabhängig macht von der Construction, ist ein überaus schöner
von Ulm stammender Schrank im Besitze des Oberbauraths von
Egle in Stuttgart. Obwohl derselbe die Jahrzahl 1569 trägt,
hat er in den Einfassungen, welche die Felder begranzen, gothi-
sches Maasswerk, das in feinster Ausführung ein völliges Ver-
ständniss der mittelalterlichen Formen bekundet. Auch die durch-
brochene, mit Zinnenkranz abgeschlossene hohe Galerie, welche
den Aufbau krönt, ist noch gothisch. Dagegensind die einge-
legten Ornamente, Voluten und Blumen, welche sitmmtlichc
Flächen bedecken, im Stil der bereits zum Barocco neigenden
Renaissance durchgeführt und zeigen deutlich den Einfluss der
italienischen Intarsienß) Die Mehrzahl der deutschen Schränke
geht aber auf völlige Nachbildung des steinernen Sätulenbaues
ein, und dabei strebt -in der Regel der derbere Sinn der Zeit
nach zu kräftigem Hervorheben des Einzelnen, so dass die Glieder
oft eine Ueppigkeit erhalten, welche nicht im Verhältniss zum
Ganzen steht. Auch ist nicht zu verkennen, dass in dem ge-
sammten Prinzip der Behandlung die Rücksicht auf die Bedin-
gungen des Materials oft aus den Augen gelassen und dem
Holz eine imitirte Steinarchitektur aufgezwungen wird, welche
sich tektonisch nicht vertheidigen lässt. Wohl aber legen diese
1) A, Ortwein, Deutsche Renaissance. Leipzig 1871. F01. Taf. 6 u. 14.
2) Man liest am mittleren Friese in schönen römischen Charakteren die
Inschrift: „Wan der Mensch bedacht, wer er wer, und von wan er wer
kommen her, oder was aus ihm solte werden, so würde er frummcr auf
Erden."