Rückblick.
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Franz I. bekriegten, nahmen Päpste und kleine italienische
Fürsten Partei, wie der augenblickliche Vortheil sich darbot,
und stiegen und iielen mit der wechselnden Welle des Glücks.
Italien war der Schauplatz und Preis des Kampfes. Jeder lebte
nur für und in der Gegenwart, und die Hoffnung eines Ge-
winnes, nicht irgend eine grosse Idee, beherrschte die Welt.
Das Streben der Kunst wurde allmählich nun auch realistisch
und endlich egoistisch, wie der Geist der Zeit. x
Noch leuchteten zwei grosse Erscheinungen auf. Tizian,
"in einer glücklichem Zeit geboren, lebte, da er 99 Jahr alt
wurde, in ein Zeitalter hinüber, das weit unter ihm stand.
In seinen Werken ist ein Streben nach dem Realen, aber noch
immer von einem edeln Geiste und einer kräftigen Sinnlich-
keit durchdrungen, erkennbar; doch gehörte er auch ganz
wieder dem Realen an, und wurde von diesem angezogen.
Die Welt in der ganzen Fülle ihres Reichthums an Schön-
heit und lebensvollem sinnlichen Zauber war sein Eigenthum;
denn nicht allein die menschliche Gestalt, die gesammte Natur
umfasste er mit Jugendkraft bis in sein hohes Alter. Er war
so gross als Landschafter, wie als Maler der menschlichen
Schönheit, und nur Giorgione, der aber kurze Zeit lebte,
darf sich ihm in letzte? Beziehung gleichstellen. Der andere
Künstler, dessen Geistessehwingen ihn über die sinkende Kunst
cmpcrtrugen, ist Coreggio. Sein I-lauptcharakterzug ist
eine seclenvolle Sensibilität, wie wir früher schon auseinander-
gesetzt haben.
Nur die höchste Meisterschaft in allen Theilen der Kunst
vermag die Natur zu erobern und sie zum Erbtheil der Kunst
zu machen.
Tizian und Coreggio vermochten dies im höchsten
Grade, nicht aber ihre Nachfolger. Die Zeit eines schönen
Realismus der Kunst blühte mit Beiden wieder ab und war
durch Nachahmer nicht wieder herzustellen, 'welchc dieselbe
Schaale ergriffen, aber nicht aus dem frischen Lebensquell,
aus welchem jene Beide ewige Jugend tranken, zu schöpfen
vermochten.
Bald fing man an die technischen Mittel, durch welche
grosse Meister das Herrlichste geleistet, für den Zweck selbst
zu halten; doch inhalt - und seelenlos erstarb die Kunst in