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Oberilalien.
Venediger
Schule.
sind prächtig, wie in irgend einem Venediger, nur parsamer
gebraucht; der Pinsel fein, fleissig, umständlich, scheint, wie
man jetzt zu sagen pflegt, zu schreiben, was er malt. Im Co-
lorit verfährt er auf eine Weise, die durch Neuheit und Wir-
kung iüberrascht. Was ihn am kenntlichsten macht, ist ein
höchst anmuthiges Spiel von Weiss und Dunkel in nicht gras-
sen, aber wohl unter einander gesäinftigten und gegen einander
gestellten Massen. Diesen Kunstgriff braucht er bei Figuren
sowol, als bei Gründen, wo er zuweilen Wolken von ähnlich
entgegengesetzten Farben darstellt. Meistens liebt er sehr helle
Gründe, aus welchen die Figuren wunderbar hervorspringen.
Seine Fleischtheile erinnern oft an Tiziands Frische; in den
übrigen Tinten ist er mannichfaltiger, als Tizian, oder ein
anderer Venediger. In Gewändern braucht er Blau wenig; lie-
ber vereint er auf einem Bilde mehrere Ärten von Roth oder
Gelb, und andern Farben; wie ich dies auch an andern seiner
Zeitgenossen in Brescia und Bergamo bemerkt habe. Vasari,
der ihn in CarpPs Leben mit andern Breseianern erwähnt,
lobt seine Geschicklichkeit, jeden Atlas, Sammet, oder andern,
auch Gold- und Silberstoff, nachzuahmen; ich begreife aber
nicht, wie er nicht wenigstens die würdigsten Werke eines sol-
chen Künstlers gesehen, oder verzeichnet, und einen angemes-
senen Begriff von ihm gegeben hat.
Moretto malte Einiges auf Kalk; wenn ich aber nicht
irre, malte er besser in Oel, wie meistens die guten Köpfe,
bei welchen Tiefe und Fleiss nicht mit rascher l)ül'SiIEllllIlg'g-
gabe und Malerfeuer Hand in Hand gehen. Er arbeitete viel
in seiner Vaterstadt und den Umgebungen, wo er sich denn
gemeiniglich im Zarten, selten im Grossen auszeichnete, wie
der Elias im alten Dom ist, eine Figur, die etwas Schreckli-
chcs 4') hat. Er kannte die besten Wege, aber er kümmerte
sich nur nicht darum, sie immer zu betreten. In derselben
Kirche des heil. Clcmens ist das Bild der heil. Lucia nicht so
durchdacht, wie die heil. Katharina, und diese steht wieder dem
Bilde des Hauptaltars nach, wo U. L. F. in der Luft schwebt,
41) 'D. i. in Staunen Setzendes, Ueberraschendes, Der Italiener
fühlt lebhafter als der Deulsche, dessen ruhigeres Staunen nur ein
schwächerer Grad des freudigen Schreckens ist.