9.85
Drittes
Buch.
Rölnische
Schule.
den geheilten Kranken hin. Er steht ganz freudenvoll vor den
Aposteln, hebt entzückt die Hände auf zu den Befreiern, hat
zu seinen Füssen die nun unnütz gewordenen weggcworfeneil
Krücken. Dies [hätte einem Andern genügt; Sanzio aber,
der die Anschaulichkeit und Vergegenwärtigung auf die Spitze
treiben wollte, setzte nun noch eine umgebende Vßlklilllßllgß
hinzu, welche ihin den Saum des Kleides etwas aufhebt und
neugierig die in ihren frühem Zustand versetzten Beine be_
trachtet. Derlei Beispiele finden sich bei R. in Menge, und
es geht einem mit ihm, wie mit manchen classischen Schrift-
stellern, welche, je länger studirt, desto mehr Stoff zum Nagh_
denken geben. lch begniige mich, in RaffacPs Erlindun-
gen das angedeutet zu haben, was am wenigsten beobachtet
und doch das Schwerste ist; die Bewegung der Leidenschaften,
die ganz das Werk des Ausdrucks ist, das Vergnügen an dich-
terischen Erlindungen , oder anmuthigcn Nebcnhamllungcn,
sprechen gewissermaßen für sich selbst und, beilürfen keiner
Hinweisung.
Man könnte in seinen Erfindungen noch mehr erwägen,
wie die Einheit, die Brliabenheit, die Sitte, die Gelehrsamkeit,
und man brauchte gar nicht weit danach zu suchen. ausser den
allerliebsten kleinen Dichtungen, womit er Leo's X. Siinlengayyg
verzierte, die von Lanfranco und Bnilalocchj gestochen
RaffaePs Bibel heissen. Wer erkennt nicht z. B. in Ja_
kobs Rückkehr unter der Menge von Thieren, Diencrn, Frauen,
welche kleine Kinder mit sich führen, nur Eine Familie, die
lange an Einem Orte gelebt hat und nun mit Allem, was sie
hat, sich nach einem andern begiebt? Ist nicht in der Welt-
Schöpfung der Schöpfer, der, die Arme ausgestreckt, mit einer
Hand die Sonne, mit der andern den Mond berührt, etwas
Erliahene, das mit dem einfachsten Ausdruck die grösste Idee
weckt? Und wie konnte in der Anbetung des Kalbes eine
frevliche, der wahrhaft frommen Gottesverehrnng entgegenge-
setzte besser dargestellt werden, als durch eine von unsinnige;-
Freude trunkenc, verworrelne, scliwärmerische lllenge? Die Ge-
"lehrsamkeit nun anlangend, darf man nur Davids Triumph
anführen, welchen Taja beschreibt, mit den alten Basreliefs
vergleicht, und an Kunst und llleisterschaTt allen alten Mar-
morarbeiteu verzieht. Ich weiss wohl, dass R. nicht ganz