Zweiter
Zeitraum.
Railhel
und
seine
Schule.
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Yiomazzo sogar, der tiefer war, als Beide, ihn hierin nicht
so, wie später Algarotti, Lazzarini und Mengs gerühmg
haben. Die Bahn zu gewähltem Ausdruck brach zuerst Lion-
ard o, wie ich bei der Mailänder Schule zeigen werde; da die-
ser aber so irenig und so mühsam gemalt, so kann er nicht
mit Raffael verglichen werden, der dies ganze Gebiet aus-
mass. Es ist keine Gemüthsbcivegung, kein Charakter der
Leidenschaft, den die Sittenlehre kennt und die Malerei dar-
stellen kann, den er nicht bemerkt, ausgedrückt, auf hundert-,
fache Weise und doch immer angemessen dargestellt hätte.
Von Studien, wie sie Vinci unter der Volksmenge gemacht
haben soll, erzählt man in Raffaelts Leben nichts; aber
seine Bildermenge beweiset, dass er sie nicht so anhaltend ma-
chen konnte, und seine Zeichnungen, dass er derlei Hülfen
nicht brauchte. W'ie schon bemerkt, hatte die Natur ihn mit
einer Einbildnngskraft begabt, die seine Seele in eine fabel-
hafte, oder ferne Begebenheit, wie in eine wahre und gegen-
wärtige, versetzte, so dass er die Eindrücke, welche sie auf
die Handelnden machte, erkannte und fühlte, und nicht-eher
ruhte, als bis er sie so anschaulich dargestellt, als er sie entweder
auf fremden Gesichtern gesehen, oder in seinem Geiste vorge-
bildet fand. Diese seltene Künstlergzlbc besass Raffael im
höchsten Grade. Seine Figuren lieben, schmachten, fürchten,
hoffen, wagen wirklich; sie zeigen Zorn, Versöhnlichkeit, De-
muth, Stolz, wie es die Verhältnisse fordern; wer diese Ge-
sichter, diese Blicke, diese Gebärden sieht, meint oft kein Bild
vor sich zu haben, fühlt sich entzündet, hingerissen in die
Begebenheit selbst. Eine andere Feinheit hierin ist seine Ab-
stufung der Leidenschaften, so dass jeder leicht sieht, ob sie
ab- oder zunehmen, oder erlöschen. Derlei Unterschiede hatte
er im Gespräche bemerkt und so wusste er jedesmal, was sich,
ihm bot, darzustellen." Alles spricht noch im Schweigen; je-l
dem Handelnden „ist auf der Stirn, im Aug' das Herz zu le-
sen" (Petn); die kleinen Bewegungen der Augen, der Nüstern,
des Mundes, der Finger entsprechen den ersten Regungen je-
der Leidenschaft; die beseeltesten, lebhaftesten Gebärden drücken
ihre Heftigkeit aus; und, was noch mehr ist, sie wechseln
hundertfach, ohne unnatürlich zu werden, und eignen hun-
dert Charakteren, ohne je an Eigenthümlichkeit zu verlie-