368
Drittes
Buch.
Römische
Schule.
der Schule von Athen setzt, und dabei bemerken, dass er hier,
weil es der Charakter forderte und nach dem Beispiel der Grie-
chen einen höhern Styl annahm. Denn die Griechen unter-
scheiden gar sehr Menschen von Heroen, Hcroen von Göttern;
und Raffael musste wol, nachdem er Philosophen gemalt;
die über Menschliches grübelten, bei einem Propheten, der über
göttliche Offenbarungen nachsinnt, grossartiger werden 33),
Dies Alles hätte Raffael erwiedern können, den ihm und
Bramante gemachten Vorwurf zu beseitigen. Ucbrigeng
würde er, glaube ich, nie geläugnet haben, dass Michelan-
gelo's Muster ihn zu einer gewissen grössern Kühnheit der
Zeichnung begeistert, und dass er sie in der Stärke des Cha-
rakters nachgeahmt. Wie aber nachgeahmt? S0 dass er, ant-
Wortet Crespi selbst, diesen Styl schöner und majestätiseher
gehalten (S. 344;". Es gereicht dem Raffacl gar sehr zur
Verteidigung, dass man sagen kann: wer sehen will, was Mi-
chelangelo's Sibyllen fehlt, der betrachte die Raffael-
schcn; wer sehen will, was Michel angelrfs Propheten fehlt,
sehe RaffaePs Jesaias 34)!
Nachdem die Neugier der Menge gestillt war und Ruf-
fael im Vorbeigehen den neuen Styl betrachtet hatte, verschlug;
Buonarroti die Thüren und arbeitete an der zweiten Hälfte
des grossen Werkes, welche gegen Ende des Jahres 1512 fertig
wurde, so dass der Papst zu Weihnachten in der Sistina Megge
33) Man hat über dieZeit gestritten, in welcher er den Pr0phe_
ten und die Sibyllen gemalt, und dem Vasari wegen der Grau-
Iieit des Styls Unrecht gegeben. Dass nur aber damit die Vermu_
thung nicht grundlos sei! Ein wahrer Künstler hebt und stimmt
Seinen Styl herab nach Maasgube der Gegenstände, wie ein Schrift-
steiler. Die Sibyllen gehören zu R25 grössten YVerken, und dass
sie die ersten sind, beweiset dies, dass er Timoteo della. Vige
dabei brauchte. L.
34) Sind denn nun aber der Genius, sein Ursprung und ein Wal-
ten erklärt, wenn sie mit den Erscheinungen: geschichtlichen Her-
gangs in Reih" und Glied gestellt werden? Das Tiefsle und Grösste
des lllenschengeistes hebt sich aus dem Schosse des Geheimnisses,
wie sein physisches Daseyn; nnd es ist und bleibt stets merkwür-
dig, dass, trotz den wissgierigsten und liebevollsten Forschungen, im
äussern Leben wahrhaft grosser, Göttliches otfenbarender Geister so
viele Lücken bleiben, als sollte nur des Geistes Walten und Seyn
zur Sprache kommen, und der Weltgeist spottete des Buchstnbirens
der Menschen, denen er lieber das Wort gönnen möchte! 11V,