Zweiter
Zeitraum.
RaHael
und
seine
Schule.
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Ich habe seine ersten Werke ausführlicher beschrieben, damit
der Leser diesen seltenen Geist kennen lerne. Was er, der
Erwachsene, schuf, verdankt: er zum Theil andern Künstlern,
die er nachher sah; der Schwung dieser ersten Zeit ist eigene
Schwingenkraft. Sein liebevolles, sanftes aber auch gleich
edles und hehres Gemüth führte ihn zum Idealsehönen, zur
Anmuth, zum Ausdruck, dem philosophischsten (oder geistigen)
und schwersten Theile der Malerei. Hierin vermag kein Stu-
dium, keine Kunst Wundernswcrthes zu leisten. Ein ange-
borener Geschmack und Sinn für das Schöne, eine Geistes-
kraft, von einzelnen Schönheiten hinwegsehen zu können, um
eine vollkommene zu schaffen, ein lebendiges Gefühl, ja eine
Begeisterung, augenblickliche Aeusserungen einer Leidenschaft
aufzufassen und anzuschauen, eine den Anschauungen der Ein-
bildungskraft sich anschxniegende Leichtigkeit des Pinsels- das
waren die Mittel, welche nur die Natur ihm verleihen konnte;
und diese waren ihm, wie wir sahen, von den ersten Jahren
an verliehen. Wer Raffaelßs Kunst seiner langen Forschung,
nicht seinem glücklich und göttlich begabten Geiste zuschreibt,
der wciss nicht, welche Himmelsgaben auf ihn nieder-
thauten G).
Diese bewunderte der Lehrer, diese die Mitschüler; und
damals beehrgeizte es Pinturicchio, der schon vor Raf-
faelis Geburt zu Rom mit so vielem Lobe gemalt hat, in
der grossen Arbeit zu Siena gleichsam sein Schüler zu wer-
den. Er war nicht hohen Geistes genug, im erhabenen Style
zu comnoniren, wie der Ort forderte; auch hatte Pietro nicht
einen so fruchtbaren und hohen Geist, welchen ein so ganz
neuer Gegenstand erforderte. ES 80m6" die Thaten des Aßfleüä
Sylvius Piccolomini dargestellt werden, des nachmaligen Pap-
stes Pius ll.; die ihm von der Costnitzer Versammlung aufge.
tragenen Gesandtschaften an mehrere Fürsten; die vom Gegen-
papst Felix an Friedrich llL, der ihm den Dichterlorbeer er-
theilte; und so die andern Botschaften für Friedrich selbst an
6) Condivi in BuonarrotPs Leben N. U7 sagt, Michelan-
gelo sei nicht neidisch gewesen und habe von Allen, auch von
Raffael gut gesprochen, zwischen welchem und ihm ein XVettk-ampf
in der Malerei war; nur dass er sagte, Raffael habe das nicht
von Natur, sondern durch langes Studium. L.