Buch.
Kapitel.
Lionardo
Yinci.
Schwer mochte es dem Künstler fallen, die Stätte seines lang-
jährigen Wirkens zu verlassen. Von seinem Schüler Salaino und seinem
Freunde Luca Pacioli begleitet, begab er sich nach seiner Vaterstadt
zurück, um sich nach neuer Thatigkeit umzuschauen. Von Pietro
Soderini, der damals an der Spitze des Staates stand, mit Auszeichnung
aufgenommen, erbot er sich, das dem Filippino Lippi bereits über-
tragene Bild für den Hochaltar der Servi auszuführen. Obwohl diese
Zumuthung die meisten Künstler nicht mit Unrecht gekränkt hätte,
trat der liebenswürdige Filippino bescheiden zurück. Allein Lionardo
verzögerte die Arbeit dermassen, dass er, obwohl das Kloster ihm nach
der Sitte der Zeit mit seinen Gehülfen Wohnung und Unterhalt gab,
nach langem Zögern nur den Karton vollendete. Aber selbst dieser
riss durch eine bis dahin nicht geahnte Vollendung ganz Florenz zu
solcher Bewunderung hin, dass mehrere Tage hindurch eine allgemeine
Wallfahrt nach dem ausgestellten Werke entstand. Gegenwärtig im
Besitz der Kunstakademie zu London, gehört er, obwohl keineswegs
in allen Theilen vollendet, zu den herrlichsten Schöpfungen Lionardo's.
Er stellt die Madonna mit dem Kinde auf dem Schoosse dar, welches
sich zum kleinen Johannes wendet, der mit einem Lamme spielt. Neben
der Madonna sitzt die h. Anna, die gen Himmel zeigt, um auf den
göttlichen Ursprung des Kindes hinzuweisen. Die Composition ist
trefflich aufgebaut und zeigt im Linienfluss, in den grossen Gewand-
motiven und dem Adel der Köpfe den freien vollendeten Stil des
Künstlers. Namentlich erkennt man in der Madonna zum ersten Mal
den ausgeprägten weiblichen Idealkopf Lionardo's mit dem süssen
Lächeln der Augen, des verführerischen Mundes und dem schmal zu-
laufenden Kinn. Dabei ist die grösste plastische Wirkung, verbunden
mit malerischer Weichheit, durch blosse Anwendung der Kreide mit
aufgesetzten weissen Lichtern erreicht. Von der Vollendung des Werkes
soll den Künstler, nach Vasarfs Bericht, das Interesse für die wegen
ihrer Schönheit berühmte Ginevra Benci abgehalten haben, deren Bildniss
er malte. Dieses Werk ist "jetzt nicht mehr nachzuweisen, da das in
der Galerie Pitti dafür gehaltene Porträt zu gering, zu hart und reizlos
für Lionardds Hand erscheint. Auch das daselbst befindliche Porträt
eines Goldschmieds, ein Werk von tiefem Farbenton, dürfte eher dem
Francia zukommen.
Im Jahre 1502 wurde Lionardo seinen künstlerischen Arbeiten
durch Cesare Borgia entzogen, der ihn als einen der berühmtesten
Kriegs- und Festungsbaumeister in seine Dienste berief, um die durch Blut