Buch.
Kapitel.
Lionardo
V iuci.
der Gruppe, in beiden gefalteten Händen sein Käppchen haltend. Es
herrscht ein schlichter Realismus in der Durchführung des Ganzen,
besonders auch in dem unbekümmerten Abweichen von der Symmetrie;
die meisterhafte Zeichnung und Verkürzung, die sich besonders in der
Gestalt des Kindes, aber auch im Kopf und den Händen der Madonna
zu erkennen giebt, zeigen uns Lionardo auf der Stufe seiner vollendeten
Reife. Aus derselben Zeit etwa stammt der h. Hieronymus in der
Galerie des Vatikan, wiederum nur in brauner Untermalung ausge-
führt, ein Meisterstück von Verkürzung, dabei von lebensvollem
Ausdruck.
Wie es kam, dass man damals in Rom auf eine solche Künstler-
kraft nicht aufmerksam wurde, um ihr grössere Aufgaben zu stellen,
ist nicht mehr zu ermitteln; wohl aber wissen wir, dass Lionardo etwa
gegen Vollendung seines dreissigsten Lebensjahres nach Mailand ging,
um in die Dienste Lodovico Sforzas zu treten (1482). Genaueres über
diesen Wendepunkt seines Lebens hat uns kürzlich die von Milanesi im
Archivio storico XVI, 219 ff. veröffentlichte Vita eines Anonymus des
sechszehnten Jahrhunderts gebracht, in Welcher erzählt wird, dass Lo-
renzo Magnifico den jungen Künstler in seinem Palaste beschäftigt und
dann den Dreissigjährigen an Lodovico Sforza nach Mailand gesandt
habe, um diesem eine Leier als Geschenk zu bringen; denn Lionardo
sei damals als Leierspieler einzig in seiner Art gewesen. Dies also
war die erste Anknüpfung seiner Beziehungen zum Moro, die von
solcher Bedeutung für ihn werden sollten. Etwa siebzehn Jahre, die
kräftigste Manneszeit, verlebte er dort im Dienste des Herzogs. Es
war die Sonnenhöhe seines Glücks und seines Wirkens, und obwohl
auch dort ein schweres Verhängniss seine grössten Schöpfungen ver-
folgt hat, ist doch noch genug vorhanden, um ihm eine der höchsten
Stellen in der Kunstgeschichte zu verbürgen.
Die Zustände am Hofe von Mailand konnten für die Entfaltung
der vielseitigen Gaben Lionardds nicht günstiger sein. Lodovico Sforza,
genannt il Moro, hatte die seinem Neffen Gian Galeazzo gebührende
Herrschaft seit 1480 an sich gerissen und hielt diesen in Haft, wenn
gleich unter milderen dies Verhältniss verschleiernden Formen, bis
später der legitime Thronfolger, wahrscheinlich durch Gift, aus dem
Wege geräumt wurde. Lodovico herrschte mit Kraft und Einsicht und
war bemüht, durch den Ruhm seiner Regierung das Andenken an die
widerrechtliche Usurpation zu verwischen. Er ist eine der gewaltigsten
Gestalten des 15. Jahrhunderts, rücksichtslos und" ohne Skrupel jedes