Tizian.
Bildnisse.
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Was nun Tizian zu einem der ersten Bildnissmaler aller Zeiten
macht, das ist die Kunst, der Einzelerscheinung diejenigen Züge ab-
zulauschen, welche gleichsam das Fundament des Charakters, den In-
begriff des geistigen Wesens ausmachen. In seinen Gestalten ist nichts
Ünwesentliches, Zufälliges. Mit feinem psychologischen Blick hat er,
was in der Wirklichkeit vereinzelt, zerstreut, durch das Leben oft
verwirrt und theilweise unkenntlich gemacht erscheint, in einen Brenn-
punkt zusammengefasst und daraus seine Charaktere so hingestellt, wie die
Natur sie gewollt, sie gedacht hat. So real er die volle Zuständlich-
keit mit allen ihren Aeusserungen zu ergreifen weiss, so wenig ist er
„Realist" in dem Sinne unserer Zeit. Er setzt die Individuen kraft
seiner herrlichen Kunst in eine höhere Sphäre der Existenz, indem er
ihnen die Vollkommenheit zurückgiebt, die sie haben sollten; er adelt
wie ein König von Gottes Gnaden aus seiner Machtfülle jeden, der
ihm gefallt, indem er ihm mit seinem Pinsel den Adelsbrief schreibt.
Freiheit der Haltung, edle lebensvollc Existenz, sprühende Kraft des
Geistes sind in jedem seiner Porträts, und jedes erhält durch die klare
glühende Farbe, und besonders durch die meisterhafte Behandlung der
Garnation eine unvergleichliche Gewalt der Wirklichkeit.
Zu seinen früheren Arbeiten dieser Art gehört das Bildniss Al-
fonso's von Este im Museum zu Madrid, welches trotz übler Her-
stellungen die meisterhafte Sicherheit der Auffassung und die leuch-
tende Frische der Färbung noch erkennen lässt. Als Inhaber der
Sanseria hatte Tizian sodann die Verpflichtung, den jedesmaligen Dogen
für den Rathssaal zu malen, und Antonio Grimani war 1521 der erste
Doge, welcher von ihm portratirt wurde. Darauf folgteiAndrea Gritti,
dessen Bildniss gleich dem seines Vorgängers sich im Privatbesitz erhalten
hat. Auch Pietro Aretino wurde mehrmals von Tizian gemalt, und eins
dieser Bilder findet man zu Padua in der Galerie Giustiniani, welche
auch jene Dogenportrats besitzt. Ein andres von 1545, in welchem der
Künstler den gemeinen Typus des Mannes durch Hervorheben der geistigen
Bedeutung geadelt hat, in der Galerie Pitti. Seine volle historische
Grösse erreicht Tizian in der Porträtdarstellung bei dem 1532 entstan-
denen Bildniss Karls V. im Museum zu Madrid, mehr noch in dem
derselben Sammlung angehörenden leider übel zugerichteten Reiterporträt,
welches den Kaiser in der verhängnissvollen Schlacht bei Mühlberg dar-
stellt. Zu gleicher Zeit mit dem letzteren (1548) entstand in Augs-
burg das Bildniss des gefangenen Johann Friedrich von Sachsen, wel-
ehes man jetzt im Belvedere zu Wien, aber in üblem Zustande sieht.
Lübke, Italien. Malerei. II. 3G