Tizian.
Pesaro.
Madonna
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treten sich herabliessen, so mussten sie ihnen auch an Leibhaftigkeit
der Erscheinung, an voller lebendiger Ausprägung der Persönlichkeit
gleich werden. Jene dagegen konnten nicht umhin, von dem idealen
Wesen der heiligen Figuren ergriffen zu werden und verlangten daher
eine Steigerung und geistige Erhöhung ihres Wesens, wäre es auch
nur in dem Ausdruck andachtsvoller Erhebung, der sie in eine reinere
Sphäre hinaufträgt. Gleichwohl fanden wir in den Werken des fünf-
zehnten Jahrhunderts den Bruch zwischen beiden so verschiedenartigen
Faktoren noch keineswegs ausgeglichen, und die ganze nordische Kunst
blieb selbst auf ihrem höchsten Punkte in diesen wie in manchen anderen
Beziehungen noch befangen. Holbein's Madonna mit der Familie des
Bürgermeisters Mayer ist bei uns vielleicht das einzige Beispiel einer
vollkommenen Lösung der Aufgabe.
Anders die grossen italienischen Meister der goldenen Zeit. Wie
in Italien das moderne Individuum sich zuerst zur vollen Freiheit des
Daseins und zu den edelsten Lebensformen aufschwang, so konnte es
dort zuerst von den Malern gleichsam ebenbürtig den heiligen Ge-
stalten gegenübergestellt werden. Nun sieht man die Altarbilder zu
voller malerischer Anordnung sich entwickeln. Der Gedanke der
architektonischen Symmetrie wird entweder durch freie, rhythmische
Wendungen belebt oder macht gar einer völlig ungebundenen Anord-
nung Platz, in welcher das Gleichgewicht grosser Massen und farbiger
Gegensätze ausschlicsslich zur Geltung kommt. Am weitesten gehen
darin, eben kraft ihrer Eigenschaft als Coloristen, die Venezianer. Sie
ordnen die Gruppen der Heiligen und der Anbetenden in luftiger
Räumlichkeit zu einem lebhaft bewegten Ganzen, das nach Art vor-
nehmer Gesellschaften zu einer heiligen Unterhaltung (vsanta conver-
sazione") sich verbindet.
Vielleicht das herrlichste Werk dieser Art ist das grosse 1526
vollendete Andachtsbild, das sich links im Schiffe der Kirche S. Maria
de' Frari zu Venedig auf einem Seitenaltare befindet. (Fig. 125.) Es
verherrlicht die Familie Pesaro, und zwar mit Beziehung auf einen
von einem Gliede derselben über die Türken davongetragenen Sieg.
Darauf deutet die lorbeergeschmückte Fahne, welche ein Geharnischter
schwingt, indem er einen gefesselten Türken mit heransohleppt. Mit
welcher Liebe Tizian dies grosse Werk ausgeführt hat, erkennt man
daran, dass er dem Fahnenträger seine eigenen Züge gegeben. Die
Hauptperson unter den Knieenden ist die vereinzelte Gestalt zur Lin-
ken, jener Jacopo Pesaro, welcher schon unter Papst Alexander VI.