546
Buch.
Kapitel.
XII.
Die Venezianer.
Wie bei Tizian Alles natürlicher, dem Leben der Wirklichkeit naher
ierscheint, so ergreifen seine Köpfe auch durch ein mehr individuelles
Pathos. Nur Christus als der idealste ist dabei entschieden zu kurz
gekommen, da in seinem Kopfe trotz Leiden und Todeserstarrung sich
mehr von der geistigen Bedeutung spiegeln müsste, die man hier mit
Recht verlangt. Dagegen gehören unter den übrigen Johannes und
die Madonna zu den ergreifendsten Darstellungen dieser Gestalten, und
erheben sich zu einer Gewalt des Schmerzes, die nachmals van Dyck
seine edelsten Inspirationen gegeben hat.
Ueber die Zeit der Entstehung dieses Bildes liegen keine be-
stimmten Angaben vor. Jedenfalls gehört es, wie die breite, meister-
hafte Behandlung und die umfassende Anwendung des Helldunkel:
beweisen, zu den Werken aus seiner vollendeten Meisterschaft. In dem
schönen leidenschaftlichen Kopfe des Johannes spürt man noch einen
letzten Nachklang Giorgione's; in der Behandlung der Gewänder erin-
nert noch Einiges an Palma. An Grösse der Composition und tiefer
Gewalt des Seelenausdrucks gehört es zu den höchsten Meisterwerken
der Epoche.
Als die Kunst sich zur charaktervollen Schilderung individuellen
Lebens befreite, bot sich ihr zunächst im Rahmen des kirchlichen
Andachtsbildes erwünschte Gelegenheit, von der neu erworbenen Er-
fahrung Zeugniss abzulegen. Sie stellte die frommen Stifter einer
Altartafel auf dem Bilde selbst dar, wie sie, von ihren Schutzheiligen
empfohlen, der jungfräulichen Gottesmutter ihre Verehrung bezeugen.
Anfangs unterlagen solche Kirchenbilder noch dem strengen Gesetze
symmetrisch-architektonischen Aufbaues, das die gesammte religiöse
Kunst beherrschte. In der Mitte auf prachtvollem Throne sieht man
dann die Madonna, auf beiden Seiten von Heiligen wie von einer Ehren-
wache umgeben; an den Stufen des Thrones knieen, regelmässig ver-
theilt, die Donatoren, und zwar meistens die ganze Familie, so dass
hinter dem Vater die Söhne in absteigender Reihe vom ältesten bis
zum jüngsten, und hinter der Mutter auf der Seite gegenüber ebenso
die Töchter auf einander folgen.
Dies gemüthliche Einführen der profanen Familie in den Kreis
der heiligen Familie hatte für beide Theile grosse Bedeutung. Beide
Gruppen, die irdische und die himmlische, mussten sich im Ausdruck
und geistigen Gehalt einander nähern. Wenn die geweihten Gestalten
der christlichen Verehrung aus ihrem idealen Goldgrunde sich lösten
und in dieselbe Räumlichkeit mit ihren demüthigen Verehrern einzu-