Tizian.
Grablegung
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Man kann der Versuchung nicht widerstehen, diese Darstellung
mit der auf dem nicht minder berühmten Gemälde RafaeYs in der
Galerie Borghese zu Rom zu vergleichen, Welche dieser in seinem
fünf und zwanzigsten Jahre für S. Francesco zu Perugia gemalt hat.
Sicherlich kannte Tizian dieses Bild, als er das seinige entwarf. Im
grossartigen Zuge der Linienführung, im idealen Gepräge der Köpfe
mit Rafael zu wetteifern lag nicht in seiner Natur. Er hat den Gegen-
stand um einen starken Grad realistischer gefasst. Sowohl der Körper
Christi, als auch der Charakter der übrigen Gestalten ist naturgemässer
durchgeführt, und selbst die genaue Wiedergabe der verschiedenen
gGewandstoffe ist ein Mittel, welches der Venezianer sich nicht hat ent-
gehen lassen, um den Vorgang dem natürlichen Empfinden des Be-
schauers näher zu bringen.
Sodann ist seine Gruppirung vorwiegend durch malerische Rück-
sichten bestimmt. Welch' mächtige Wirkung erreicht er durch die
grossen Gegensätze des fast unheimlich scharfen Lichtes, das auf die
unteren Theile des Körpers Christi und den Kopf des Johannes fällt
und auch die Gruppe der beiden Frauen noch streift, und des tiefen
Schattens, der den Kopf und Oberkörper Christi bedeckt! Ist letzterer
gegenwärtig zu undurchsichtig, sobleibt die Wirkung doch eine er-
greifende, und beweist, wie Tizian die sinnlichen Mittel von Farbe,
Licht und Helldunkel meisterhaft zu Vermittlern tief seelischer Stim-
mungen zu verwenden wusste. Dass ferner die körperliche Handlung
des Tragens weit schlichter und natürlicher sich giebt, als in RafaeYs
Bilde, dass sie sich glücklicher dem geistigen Ausdruck unterordnet, und
dass die Mutter in ihrem Schmerz edler aufgefasst und inniger mit
der Hauptgruppe in Beziehung gesetzt ist als bei dem jugendlichen
Meister von Ürbino, wird man nicht verkennen. Ebenso ist die Land-
schaft im Bilde Tizian's mit den jagenden Wolken und dem scharf
durchbrechenden Lichtstrahl in innerlichen Einklang mit dem Vorgange
gesetzt, während sie bei Rafael noch in der kindlichen Harmlosigkeit
der früheren Zeit wie eine gleichgültige Zugabe erscheint.
Es versteht sich von selbst, dass mit dieser Vergleichung nicht
etwa eine Parallele der künstlerischen Bedeutung beider Meister ge-
geben sein soll. Schon der Umstand, dass das Rafaelische Werk aus
der Jugend, das Tizianische aus der reifen Meisterepoche seines Ur-
hebers herrührt, macht eine Gegenüberstellung in diesem Sinne unmög-
lich. Wohl aber wirft eine solche auf die Verschiedenartigkeit ihres
Kunstverfahrens und ihrer geistigen Richtung ein bedeutsames Licht.
Lübke, Italien. ltlalerei. II. 35