Volltext: Geschichte der Italienischen Malerei vom vierten bis ins sechzehnte Jahrhundert (Bd. 2)

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Buch. 
XII. 
Kapitel. 
Venezianer. 
Man glaubt den himmlischen Sturm zu fühlen, der diese grossartige 
Erscheinung wie auf Fittigen hinaufträgt. In edelster Bewegung breitet 
die Königin des Himmels, halb in demüthigem Staunen, halb in be- 
geisterter Sehnsucht, die schönen Arme dem sich öffnenden Himmel 
entgegen. Die leichte Wendung, weiche dabei ihr Körper macht, ist 
bewundernswürdig erfunden, um den Eindruck eines elastischen, halb 
schwebenden Stehens zu erreichen. Am herrlichsten aber leuchtet das 
grossartig schöne Gesicht der Madonna, und mit weiser Mässigung hat 
der Künstler die Verkürzung desselben so gehalten, dass der Ausdruck 
des Entzückens, der aus den Augen bricht und die Züge verklärt, 
nicht verloren geht. 
Ueber ihr schwebt Gottvater herab, in bedeutender Verkürzung 
dargestellt, die Arme segnend wie zum Empfange ausgebreitet. In 
seinem Kopfe hat Tizian sich offenbar dem von Michelangelo an der 
Decke der Sixtinischen Kapelle für Gottvater geschaffenen Typus 
angeschlossen, ohne ihn freilich an Erhabenheit zu erreichen. Sinnig 
ist es gedacht, wie zwei schöne Engel, der eine mit dem Lorbeerkranz, 
der andere, grössere, mit dem Diadem, zu beiden Seiten schweben. 
Der letztere scheint innig um die Gunst zu flehen, die Himmels- 
königin krönen zu dürfen. Eine Schaar von kleineren Engeln umringt 
in weitem Kreise die Mittelgruppe. Einige musiciren auf Flöten und 
Tambourinen, andere Weisen in kindlichem Entzücken auf die herrliche 
Erscheinung hin. Eine köstliche Gruppe rechts singt aus einem breiten 
Notenstreifen ein himmlisches Quartett; noch andere stützen und halten 
die Wolkenschicht, auf welcher die Madonna emporgetragen wird. Einen 
entzückenderen Schwarm von reizenden Kindern kann man nicht sehen. 
Die auf der Erde zurückgebliebenen Apostel sind in einer Be- 
wegung, wie sie ein urplötzliches mächtiges Ereigniss hervorruft. 
Staunen und Bewunderung verbinden sich in ihrem Nachschauen mit 
Sehnsucht und Begeisterung. Petrus ist, übermannt von der, Erschei- 
nung, auf den Rand des Sarkophages niedergesunken, dem die Jung- 
frau eben entschwebte; in fiehendem Aufblicken hebt er die Hände, 
als rufe er: O nimm mich mit! Energischer drückt sich dieselbe 
Empfindung in der mächtigen Gestalt zu seiner Linken aus, vermuth- 
lich Paulus. Er schreitet kühn (den rechten Fuss sogar in gar zu 
gewaltsamer Stellung) vorwärts und breitet so leidenschaftlich seine 
Arme empor, als ziehe ihn eine geheime Gewalt der Verherrlichten 
nach. Von edelster Begeisterung glühend, blickt der männlich schöne 
Johannes ebenfalls hinauf und legt wie betheuernd die Hand auf die
	        
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