Tizian.
Frauenbildnisse.
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Ausdruck bringen, wenn Rafael's weibliche Bildnisse geistige Hoheit
athmen, so entzücken Tizian's Frauenporträts durch den Zauber adliger
Anmuth, hinreissender Schönheit. Sie stehen der Natur am nächsten,
aber es ist eine erhöhte, im Sonnenlicht freier Renaissancebildung ver-
klärte Wirklichkeit, die aus ihnen uns entgegenstrahlt.
Zu den frühesten dieser Werke gehört die sogenannte Flora der
Üffizien. Es ist ein junges Weib von üppigen Formen und von jener
Fülle des lockenumflossenen Antlitzes, wie sie Palma schildert. In der
That erinnert auch der weiche Schmelz der Oarnation an diesen Meister.
Wir belauschen die edle Gestalt beim Ankleiden, denn die mächtigen
Formen sind nur leicht durch ein Mousselingewand verhüllt, welches
von der Schulter hinabgleitet und in reizender Bewegung durch die
linke Hand festgehalten wird, während die Rechte einen Blumenstrauss
darbietet. Der edle Reiz reinster Natur spricht aus diesen Formen
mit der Ünbefangenheit antiker Plastik. Dieselbe anmuthige Gestalt
erkennen wir in dem herrlichen Bilde des Louvre, welches seinen
Platz unter den Meisterwerken des ,.,Salon quarre" gefunden hat. Unter
den vielen Bildnissen, welche der grosse Meister geschaffen, gehört es
zu der auserlesenen Zahl jener unvergleichlichen Werke, in denen eine
besondere Wärme jeden Pinselstrich des Malers beseelt zu haben scheint.
Deshalb hat man darin die Geliebte Tizian's erkennen zu müssen
geglaubt und dem Bilde die Bezeichnung "Titien et sa maitressea
gegeben. Diese Benennung wird durch Nichts gerechtfertigt; dagegen
macht Ticozzi, gestützt auf Medaillen und zuverlässige Porträts, die
Ansicht geltend, dass die hier dargestellten Personen Herzog Alfons
der Erste von Ferrara und seine Geliebte, die Signora Laura de' Dianti
seien. Diese Dame war von niederer Herkunft, wusste aber durch
Schönheit und durch Geist den Herzog so zu fesseln, dass er sie unter
dem Beinamen "Eustochia" zu seiner Gemahlin machte, nachdem seine
erste Gemahlin, Lucrezia Borgia, gestorben war. Dass Tizian die
Signora Laura gemalt hat, wissen wir durch Vasari, der das Bild eine
erstaunenswürdige Arbeit („opera stupenda") nennt. Da nun von
diesem Bilde zu Ferrara eine Wiederholung sich ündet, welche die Dame
fast ganz nackt darstellt, so nimmt Ticozzi an, Tizian habe sie zuerst
in jenem Bilde als Geliebte des Herzogs, dann in unserem, bekleidet,
als seine Gemahlin dargestellt. Eine Vermuthung, die Manches für
sich hat.
Die junge Frau steht am Toilettentische und hält in der Linken
ein Fläschchen, während sie mit der Rechten das üppig herabwallende