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Buch.
Kapitel.
XII.
Die Venezianer.
Zeichnung, Linienzug und Modellirung, das Alles verleiht diesem Bilde
einen unvergleichlichen Werth. Dazu kommt die feinste Sorgfalt der
Ausführung, die schönste Concentration des Lichtes und das glühendste
Kolorit, in welchem die goldbraunen Gestalten sich von einer tief-
dunklen Landschaft absetzen, die mit ihren prachtvollen Bäumen und
dem wonnigen Fernblick auf ein schön gezeichnetes Gestade den
poetischen Eindruck noch erhöht. Von diesem Bilde wissen wir, dass
es erst 1522 auf fortwährendes Drängen des Herzogs vollendet wurde.
WVenn es bei diesen Werken auf Schilderung leidenschaftlich er-
höhten Lebensgenusses abgesehen ist, so giebt Tizian in keiner anderen
Darstellung so einfach anspruchslos die blosse Existenz der Schönheit
wie in den sogenannten Venusbildern. Es ist zweifelhaft, ob die-
selben vom Meister durchweg als Darstellungen dieser Göttin gedacht
sind. Man sieht nichts Andres als ein schönes Weib in ruhiger Lage
auf zarte Linnen hingestreckt. Doch ist häufig ein kleiner Amor dabei,
der eine mythologische Deutung rechtfertigt. Zu den frühesten dieser
köstlichen Darstellungen gehört das allerdings übel behandelte Bild im
Museum zu Darmstadt, wo die schöne Ruhende die zarten Formen
eben aufknospender Jugend zeigt. Es ist bezeichnend, dass Tizian
hier wie in der himmlischen und irdischen Liebe und dem Bacchanal
die geschmeidigen, feinen Linien einer blühenden jungfräulichen Schön-
heit gewählt hat. Alte SGlIHlkOPiGGH im Fitzwilliam-Museum zu Cam-
bridge, sowie in Dudley-House und beim Herzog von Wellington in
London bezeugen die frühe Beliebtheit dieses Bildes. Ein glühend-
rother Vorhang, der von einer Eiche herabhängt und sich unter der
Gestalt als Lagerdecke ausbreitet, lässt im Einklang mit der poetischen
Landschaft den Reiz der nackten Formen noch feiner hervortreten.
Variationen in der Galerie zu Dresden und zu Dulwich fügen als
anziehendes Motiv noch einen schelmischen Amor hinzu, der scherzhaft
die Hand der Schönen mit dem Pfeile ritzt. Diese edlen Schöpfungen
sind so rein und unbefangen wie die Marmorbilder der Griechen. Ab-
sichtsvoller ist die Venus Anadyomene, auch Venus mit der Muschel
genannt, die aus den Fluthen auftaucht und ihr goldenes Haar mit der
Hand ausdrückt, in der Galerie Ellesmere zu London.
In etwas späterer Zeit schuf Tizian jenen zweiten Typus, den
die bezaubernde, aus dem Besitz der Herzoge von Ürbino stammende,
ruhende Venus der Üffizien (Nr. 1117) zeigt. Hier ist aber jede
mythologische Anspielung vermieden; wir sehen nur ein schönes Frauen-
bild in wonniger Ruhe auf ihrem Lager gebettet, mit jenem Ausdruck