532
Buch.
III.
Kapitel.
XII.
Die
Venezianer.
ausgesprochen und dabei so ganz in die lebensvolle Schilderung schöner
Wirklichkeit aufgelöst, dass er mit unmittelbarer Kraft der Stimmung
sich dem Beschauer mittheilt. Tizian malte nach Vasarfs Aussage
dies schöne Bild, nachdem er von Ferrara zurückgekehrt war, also
bald nach 1520. Gegenwärtig befindet es sich in der Bridgewater-
Galerie zu London.
Neben allen diesen bedeutenden Schöpfungen giebt es nun eine
ganze Reihenfolge herrlicher Werke, in welchen Tizian die Begeisterung
für die Antike zum Ausdruck gebracht hat. In der Epoche der höchsten
Blüthe ist die italienische Kunst getränkt von der Anschauung antiker
Bildwerke, deren Lebensfülle und Formvollendung die Meister lehrte,
die Natur so gross auf's Wesentliche, Allgemeingültige anzuschauen,
dass ihre Werke eine ewige Gültigkeit erlangt haben wie jene. Keinem
aber von allen Meistern jener Zeit war die Antike so wahlverwandt
wie Tizian. Wie er die höchste ideale Verkörperung der venezianischen
Sinnesweise war, die vor Allem auf freien Lebensgenuss sich richtete,
so musste ihm für den Ausdruck dieser Stimmung kein Stoifgebiet so
willkommen sein wie das antike. Rafael war auch auf diesem Gebiet
inniger als der Venezianer. Es ist kein Zufall, dass er gerade die
seelenvollste aller griechischen Mythen verherrlicht hat. Anders schon
Giulio Romano, der in ungestümer Thatenlust sich an den Kämpfen
der Giganten erfreut und dieselben in kühnen Gestalten an die Wände
und Decken des Palazzo del Te zu Mantua hinschreibt. Zu beiden
steht wieder Oorreggio in unverkennbarem Gegensatze, wenn er das
nervös aufgeregte sinnliche Leben, den Taumel entzückender Liebes-
lust verführerisch zuschildern unternimmt.
Tizian stellt sich anders als sie alle zu den antiken Stoffen. Er
hat sein langes Leben hindurch unzählige Bilder mythologischen In-
halts geschaffen; aber es kommt ihm dabei stets auf den Ausdruck
eines heiteren festlich gestimmten Lebens, auf Darstellung schöner Ge-
stalten in wonnigem Genuss des Daseins an. Er kennt Weder die
seelenvolle Innigkeit Rafaelischer Psychenbilder, noch den bestrickenden
Zauber der Danae's, Leda's und Io's eines Correggio. Nur ausnahms-
weise hat er das Gebiet des letzteren betreten, wie in der Danae zu
Neapel, von der uns Vasari erzählt, dass Michelangelo sie sehr be-
wundert habe. Wo er gesteigerte Lust ausdrücken will, da ist es
das übermüthige Reich des Bacchus, das ihn am meisten anzieht. Gleich
nach 1514 Enden wir ihn schon in Ferrara damit beschäftigt, zu dem
von ihm vollendeten Bacchanal Bellini's ein anderes als Gegenstück