Tizian.
Allegorische Bilder.
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sie ihr Gesicht und blickt starr in's Weite. Die reich herabiluthenden
blonden Locken sind von einem zarten Myrthenreis als Diadem umgeben.
Vergebens plätschert ein reizender Amor dicht neben ihr in heitrem Spiel
mit dem Wasser des Brunnens, das vorn aus einer Mündung schim-
mernd auf den saftigen Rasen strömt. Die stolze Schöne scheint starr
und unbewegt; mitleidslos hat sie aus dem Strauss in ihrer Rechten
die Rose entfernt und die arme Blume der Liebe zerpilückt auf den
Rand des Brunnens geworfen. Ünd doch, täuscht uns nicht ein prü-
fender Blick, doch ist in der Haltung des schönen Kopfes Etwas, das
auf den inneren Kampf deutet. Das Auge ist abgewandt, aber das
Ohr den schmeichlerischen, {lebenden Vorstellungen zugekehrt, mit
welcher die Liebe selbst, von den beredten Lippen ihrer schönsten
Vertreterin, sie innig zu bestürmen scheint. Wie dringend wissen die
glänzenden Augen der holden jugendlichen Gestalt, die auf dem anderen
Ende des Brunnens sitzt, zu bitten! wie herzlich neigt sie sich der
spröden Gefährtin entgegen! wie ist jede Linie des reinen, zarten, an-
muthvollen Körpers in seiner gottgeschaffenen Nacktheit, noch gesteigert
durch das reich herabwallende rothe Gewand, einer sanften Musik zu
vergleichen, die den süssesten Worten als Begleitung dient!
In diesen Kampf der Empfindungen, in diese Herrlichkeit ent-
zückender Gegensätze lässt uns der grosse Meister blicken. Wer denkt
da noch an Allegorie? Die stärkste, reinste Gewalt des Lebens, ver-
klärt vom unsterblichen Hauche der Poesie, umfängt das Gemüth und
hebt es in eine höhere Sphäre des Daseins. Die ganze goldige Klar-
heit, die Frische und Kraft und zugleich der zarteste Farbenschmelz
aus des Meisters Jugendzeit liegt auf dem Bilde. Die liebevoll zarte
Vollendung, die zierlich durchgeführte Landschaft bestätigen diese
Annahme, die Behandlung des Kolorits und namentlich der Kopf der
bekleideten Dame, mit den üppig vollen Wangen, mahnt an die Epoche,
wo Tizian denSpuren Palma's nachging.
Eine spätere Zeit des Meisters vertritt die reizende Composition,
welche unter dem Namen der „drei Lebensalter" bekannt ist. Sie zeigt
in schattenreicher Landschaft einen jungen Hirten neben einem schönen
blonden Mädchen auf dem Rasen gelagert. Er scheint sie im Flöten-
spiel unterrichten zu wollen, und sie blickt mit unschuldiger Hingebung
und Treuherzigkeit ihn an. Zur Seite sieht man zwei schlummernde
Kinder, über welche unbemerkt Amor hinwegschreitet. Im Hinter-
grunde ruht ein Greis, der sich der Betrachtung eines Todtenschädels
überlässt. Der poetische Gedanke des Bildes ist so einfach natürlich