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Buch.
XII.
Kapitel.
Die Venezianer.
das Gemüth des Beschauers von dem unmittelbaren Reiz höchster
Poesie erfasst und darin wie in einen holden Traum verstrickt. Die
ideale Stimmung, welche in den schönsten italienischen Novellen lebt,
weht uns aus diesen Wundern der Malerei entgegen.
Auch von Tizian besitzen wir einige der herrlichsten Schöpfungen
gerade auf diesem Gebiete. Vielleicht war dasselbe die Freistatt, wo,
fern von dem Zwange conventioneller Aufgaben, der Genius des Künst-
lers aus innerster Ueberzeugung seinen Lieblingsträumereien nachgehen
konnte. Als eine der frühesten dieser Darstellungen erscheint das unver-
gleichliche Bild, welches unter dem Namen der "himmlischen und irdi-
schen Liebe" zu den edelsten Schätzen des Palazzo Borghese in Rom
Himmlische und irdische Liebe,
von Tizian.
Borghese.
gehört. (Fig. 121.) Die Bezeichnung ist nicht zutreffend, und gewiss
hat Jakob Burckhardt Recht, wenn er die Gestalten als "Liebe und
Sprödigkeita erklärt, ein Gegenstand, welcher, wie er hinzufügt, auch
früher schon, unter Anderen von Pietro Perugino behandelt worden war.
In reicher Landschaft unter einem dicht schattenden Baume sitzen
zwei weibliche Gestalten auf einem marmornen Brunnen, dessen Vorder-
seite wie an Sarkophagen mit Reliefs bedeckt ist. Schon dieser plastische
Schmuck weist auf den Gedanken des Bildes hin: ein schlummernder
Amor wird von einer nackten jugendlichen Gestalt, die etwas Bacchan-
tisches hat, mit Geisselhieben aus dem Schlafe geweckt. Die schöne
Spröde sitzt, ganz bekleidet mit den prächtigen Gewändern einer vor-
nehmen Venezianerin, selbst mit Handschuhen angethan, zur Linken an
den Rand des Brunnens gelehnt. In jungfräulich herbem Stolz wendet