Volltext: Geschichte der Italienischen Malerei vom vierten bis ins sechzehnte Jahrhundert (Bd. 2)

Tizian. 
Christus mit 
dem Zinsgroschen. 
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eben im Vorüberschreiten durch den frechen Frager aufgehalten worden. 
Mit erhabener Langmuth hat er ihn angehört; aber die Arglist klar 
erkennend, wirft er nun aus den grossen durchdringenden Augen einen 
Blick auf ihn, der unwiderstehlich ist. Kein Zorn, keine Aufwallung 
in den edlen bleichen Zügen; vielleicht zuckt nur eine Regung schmerz- 
lichen Befremdens über all' die Bosheit um den schönen Mund. Diesen 
Ausdruck begleitet die fein geformte Hand mit höchst bezeichnendem 
Gestus, wie denn in den beiden einander begegnenden Händen derselbe 
physiognomische Contrast nachklingt, der in den beiden Köpfen mit 
solcher Meisterschaft ausgeprägt ist. Der geistige Sieg des Edlen über 
das Gemeine, so kann man den Inhalt dieses Bildes bezeichnen. 
Keinem seiner Werke hat Tizian eine ähnlich zarte Durchführung 
gegeben. Mit Bewunderung verfolgt man die detaillirende Feinheit, 
mit welcher der volle Bart und das lockige Haupthaar Christi, sowie 
der kurze, struppige Haarwuchs des Pharisäers, ebenfalls als Elemente 
treffender Charakteristik, durchgeführt sind. Damit verbindet sich aber 
die volle Klarheit und Gluth des Kolorits, "welches Tizian eigen ist. 
Die wenigen Hauptfarben, das rothe Gewand und der blaue Mantel 
Christi, werden durch die tiefen goldbraunen Töne des Pharisäers zu 
prächtigem Accord verbunden. Am Halssaume des Gewandes, mit 
welchem letzterer bekleidet ist, hat Tizian seinen Namen angebracht, 
eine Auszeichnung, die er nur wenigen seiner Werke verliehen. 
Ein anderes Brustbild Christi, ebenfalls aus der früheren Zeit des 
Meisters, ehemals im Besitz der Herzöge von Ürbino, jetzt in der Galerie 
Pitti (N1x228) ist wie ein Nachklang der edlen Figur auf dem Zins- 
groschenbilde. Der Kopf hat ähnliche Feinheit des geistigen Ausdrucks, 
aber die Ausführung ist flüchtiger und breiter, die Farbe jedoch von 
duftiger Weichheit.  
Bisher haben wir den Meister nur auf religiösem Gebiet auf- 
gesucht und hier schon wahrgenommen, wie er mit hoher geistiger 
Kraft die Kunst aus den Fesseln der Tradition zu befreien wusste. 
Aber die Kunstanschauung der Venezianer suchte ausserhalb der reli- 
giösen und der antiken Steife bald ein neutrales Gebiet, auf welchem 
sie sich ihren poetischen Eingebungen überlassen konnte. Giorgione 
war der erste Meister, der solchen Darstellungen durch glühende Lebens- 
fülle und phantasievolle Tiefe einen Zauber verliehen hat, welcher sie 
für alle Zeiten bewundernswerth macht. Manchmal ruhen solche Bilder 
auf allegorischen Voraussetzungen; manchmal ist es ein novellistischer 
Gegenstand, der geheimnissvoll sich in ihnen verbirgt: aber stets wird 
Lübke, Italien. Malerei. I1. 34
	        
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