Tizian.
Christus mit
dem Zinsgroschen.
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eben im Vorüberschreiten durch den frechen Frager aufgehalten worden.
Mit erhabener Langmuth hat er ihn angehört; aber die Arglist klar
erkennend, wirft er nun aus den grossen durchdringenden Augen einen
Blick auf ihn, der unwiderstehlich ist. Kein Zorn, keine Aufwallung
in den edlen bleichen Zügen; vielleicht zuckt nur eine Regung schmerz-
lichen Befremdens über all' die Bosheit um den schönen Mund. Diesen
Ausdruck begleitet die fein geformte Hand mit höchst bezeichnendem
Gestus, wie denn in den beiden einander begegnenden Händen derselbe
physiognomische Contrast nachklingt, der in den beiden Köpfen mit
solcher Meisterschaft ausgeprägt ist. Der geistige Sieg des Edlen über
das Gemeine, so kann man den Inhalt dieses Bildes bezeichnen.
Keinem seiner Werke hat Tizian eine ähnlich zarte Durchführung
gegeben. Mit Bewunderung verfolgt man die detaillirende Feinheit,
mit welcher der volle Bart und das lockige Haupthaar Christi, sowie
der kurze, struppige Haarwuchs des Pharisäers, ebenfalls als Elemente
treffender Charakteristik, durchgeführt sind. Damit verbindet sich aber
die volle Klarheit und Gluth des Kolorits, "welches Tizian eigen ist.
Die wenigen Hauptfarben, das rothe Gewand und der blaue Mantel
Christi, werden durch die tiefen goldbraunen Töne des Pharisäers zu
prächtigem Accord verbunden. Am Halssaume des Gewandes, mit
welchem letzterer bekleidet ist, hat Tizian seinen Namen angebracht,
eine Auszeichnung, die er nur wenigen seiner Werke verliehen.
Ein anderes Brustbild Christi, ebenfalls aus der früheren Zeit des
Meisters, ehemals im Besitz der Herzöge von Ürbino, jetzt in der Galerie
Pitti (N1x228) ist wie ein Nachklang der edlen Figur auf dem Zins-
groschenbilde. Der Kopf hat ähnliche Feinheit des geistigen Ausdrucks,
aber die Ausführung ist flüchtiger und breiter, die Farbe jedoch von
duftiger Weichheit.
Bisher haben wir den Meister nur auf religiösem Gebiet auf-
gesucht und hier schon wahrgenommen, wie er mit hoher geistiger
Kraft die Kunst aus den Fesseln der Tradition zu befreien wusste.
Aber die Kunstanschauung der Venezianer suchte ausserhalb der reli-
giösen und der antiken Steife bald ein neutrales Gebiet, auf welchem
sie sich ihren poetischen Eingebungen überlassen konnte. Giorgione
war der erste Meister, der solchen Darstellungen durch glühende Lebens-
fülle und phantasievolle Tiefe einen Zauber verliehen hat, welcher sie
für alle Zeiten bewundernswerth macht. Manchmal ruhen solche Bilder
auf allegorischen Voraussetzungen; manchmal ist es ein novellistischer
Gegenstand, der geheimnissvoll sich in ihnen verbirgt: aber stets wird
Lübke, Italien. Malerei. I1. 34