526
Buch.
Kapitel.
XII.
Venezianer.
Tizian selbst ausgeführt; er hatte zunächst zu schildern, wie auf Geheiss
des Heiligen ein unmündiges Kind zu reden anfängt, um die Unschuld
seiner Mutter zu bezeugen. Er giebt hier bei einem Stoff der mög--
lichst ungünstig für die Malerei war, Wenigstens ein prächtig bewegtes
dramatisch ergreifendes Lebensbild, frei entwickelte Gestalten in schöner
Landschaft. Stürmisch grossartig ist das andre Bild, wo der Heilige
einen Jüngling heilt, der sich für eine im Zorn an seiner Mutter be-
gangene Frevelthat durch Abbauen seines Fusses selbst bestraft hatte.
Auch hier ist volles dramatisches Leben und ein prachtvoller land-
schaftlicher Hintergrund im Charakter der wilden Gebirgsthäler des
Friaul. Das dritte Bild Tizian's schildert die Legende von dem eifer-
süchtigen Ehemann, der seine Frau ermordet hat, dann aber sich reue-
voll an den h. Antonius wendet, der ihm verzeiht und die Frau in's
Leben zurückruft. Hier ist die Composition am schwächsten und auch
der landschaftliche Hintergrund nicht von gleicher Bedeutung. Wenn
übrigens die moderne Kritik unbarmherzig über diese Arbeiten herfällt,
so muss dagegen bemerkt werden, dass die Werke durchweg zu stark
gelitten haben, um solches Urtheil zu gestatten, dass aber trotzdem Spuren
genug vorhanden sind, aus denen man auf einen ursprünglich hohen colo-
ristischen Werth schliessen kann. In der Sc. del Carmine gehört dem
Meister nur ein Bild, die Begegnung J oachim's mit Anna. Dies ist ein
durch Einfachheit, Innigkeit des Ausdrucks und Adel der Gestalten,
namentlich aber durch eine anmuthige Landschaft ausgezeichnetes Bild.
Ohne Frage lassen sich an geistiger Wucht und plastischem Wohllaut
diese Fresken Tizian's nicht mit denen der Florentiner und der römischen
Schule messen, aber sie erfreuen doch durch hohe Lebendigkeit, zum
Theil auch durch dramatischen Nerv, grossartig poetisch empfundene
Landschaften und ursprünglich ohne Zweifel durch coloristischen Reiz.
Auch in Vicenza malte er 1512 ein Freskobild in einer öffentlichen
Loggia, das Urtheil Salomds darstellend, welches jedoch untergegangen
ist. Dass Tizian auch in dieser Technik gelegentlich Tüchtiges zu
leisten vermochte, beweist das kolossale Bild des h. Christophorus aus
dem Jahr 1523, welches man allerdings an sehr ungünstiger Stelle im
Dogenpalast sieht und zwar über dem Eingang zur Treppe, welche
aus den Privatzimmern des Dogen in die Kapelle des Palastes führte.
Es ist, soweit man es erkennen kann, ein kraftvolles Bild von tüchtiger
Ausführung und in grossartigem Stil entworfen.
Bald nach seiner Rückkehr aus Padua erhielt er den Auftrag, eine
Altartafel mit der Verherrlichung des h. Marcus für S. Spirito zu malen,