Tizian.
Madonnen und heilige Familien.
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andrerseits die ideale Jünglingsiigur des Stefanus angeordnet ist. Der
Künstler hat hier wahre Mustertypen der drei Lebensalter gegeben,
und in dem innigen Aufbliek des Märtyrers, in dem ruhigen Ernst
des ritterlichen Heiligen und dem feierlichen Versunkensein des Alten
wundervolle psychologische Gegensätze geschaffen. Das Kolorit ist
bei breitester Behandlung von kaum zu übertreffender Tiefe, Sattheit
und gluthvoller Herrlichkeit. Fast genau dieselbe Composition, nur mit
der Aenderung, dass neben" Stefanus die Heiligen Ambrosius und Mau-
rizius angeordnet sind, Endet sich im Louvre. Auch hier dieselbe
Innigkeit im Antlitz der liebevoll auf das Kind herabschauenden Ma-
donna, dieselbe reizende Natürlichkeit des Kindes, dieselbe andächtige
Gluth im h. Stefanus, neben welchem Ambrosius als prachtvoller vene-
zianischer Nobile in leuchtendem Pnrpurmantel, Maurizius als Ritter in
blitzender Rüstung sich abhebt; in Klarheit, Frische und Feinheit des
goldigen Tons wieder eins seiner herrlichsten Werke. Aus beträchtlich
späterer Zeit stammt eine andere Madonna derselben Sammlung, welche
die h. Jungfrau in einer poetischen Gebirgslandschaft mit dem auf
ihrem Schoosse stehenden segnenden Christkind darstellt. Vor ihr wirft
sich die h. Agnes verehrend nieder, in der Linken eine Palme haltend,
mit der Rechten das ihr als Attribut zukommende Lamm streichelnd,
welches der kleine Johannes herbeiführt. Auch hier fesselt die Compo-
sition durch die freie Bewegung und durch das trauliche Zusammensein
in schöner Natur, durch die huldvolle Milde der Madonna, den liebens-
würdigen Eifer des kleinen Johannes, sowie durch die prächtige, effekt-
voll beleuchtete Landschaft. Die Ausführung zeigt die kühne Breite
und Sicherheit der späteren Zeit, die Farbe ist tief gesättigt, der Ton
des Fleisches glühend und reich modellirt. Wie sorgfältig Tizian bis-
weilen noch in seiner späteren Zeit auszuführen wusste, erkennt man
in derselben Sammlung an der berühmten „Vierge au lapin", die wahr-_
scheinlich um 1530 entstanden ist. (Fig. 120.) Hier giebt der Künstler
die denkbar höchste Stufe der von Palma eingeführten heiligen Idyllen,
indem er im Vordergrunde einer köstlichen Alpenlandschaft, welche
die zackigen Dolomitkuppen seiner Heimath zeigt, die h. Jungfrau als
einfaches Landmädchen sitzend darstellt. Die h. Katharina, eine vor-
nehme Gestalt in Perlendiadem und reichen Gewändern, neigt sich zu
der jungen Mutter, indem sie ihr auf den Armen das Kind entgegen-
bringt, welches in reizender Bewegung mit dem einen Händchen das
Kinn der Heiligen berührt und das andere gegen ein weisses Kaninchen
ausstreckt, welches Maria am Boden festhält. Man kann die Scene