518
Buch.
XII.
Kapitel.
Venezianer.
beginnt das eigentliche Leben der Farbe. Fortan trat diese nicht mehr
als materielle Substanz im Bilde auf, sondern als die luftumüossene,
mit Wider-scheinen durchwebte Ausstrahlung jedes Körpers.
So sehen wir zuerst in grossem Sinne Giorgione, dann in völliger
Befreiung Tizian die Mission der Malerei auffassen. Wie dieser nun
in seinem langen Leben unbeirrt demselben Gesetze treu bleibt und
in einer fast unabsehbaren Reihe von Werken, ohne je eintönig zu
werden, demselben einfachen Princip huldigt, welches er auf der Basis
der Schule von Venedig gewonnen hatte, das ist eine der seltensten
Thatsachen der Kunstgeschichte?" Seine" Palette kennt keine so reich
schillernde Farbenscala, wie sie in der Folge durch Paolo Veronese
in die venezianische Malerei eingeführt wurde. Wenige bestimmte
Haupttöne kehren stets wieder: ein leuchtendes Roth, welchem ein
sattes Gelb gegen das kräftige Blau und bisweilen ein saftig frisches
Grün secundirt. Aus diesen Grundelementen weiss er die mächtigsten
Wie die zartesten Accorde zu zaubern, weiss die grösste Leuchtkraft
und Tiefe mit Linübertreiflichem Schmelz, weiss Duft mit Gluth wunder-
sam zu paaren. Was aber seine Carnation betrifft, so ist nie das Fleisch
lebenswarmer, zarter und zugleich gesunder und blühender gemalt
werden. In seinen nackten Gestalten fühlt man den kräftig klopfen-
den Puls, fühlt jeden Blutstropfen, der durch die Adern rollt, jeden
Athemzug, der die schwellenden Formen leise bewegt. Wenn irgendwo,
so sind hier die Götter Griechenlands vom tausendjährigen Schlummer
zu neuem Leben erstanden.
Aus dem bereits Gesagten leuchtet ein, dass eine geschichtliche
Betrachtung des Entwicklungsganges unsers Meisters wenig Anhalts-
punkte finden wird. Als hätte er ein Gefühl davon gehabt, dass in
seiner Kunst von verschiedenen Epochen kaum zu reden sei, hat er
äusserst selten einem Werke das Datum der Entstehung beigesetzt,
und selbst seinen Namen hat er nur in besonderen Fällen hinzugefügt.
Von einem seiner frühesten Bildnisse, dem Porträt eines ihm be-
freundeten Edelmannes aus der Familie Barbarigo berichtet Vasari,
njedes einzelne Haar sei so fein gemalt gewesen, dass man sie hätte
zählen können, und dasselbe gelte von den Punkten einer Atlasjacke
in dem nämlichen Bilde". Wenn Vasari dies Werk in die Zeit weist,
wo Tizian angefangen habe, Giorgione nachzuahmen, so ist dies gewiss
ein Irrthum. Denn Giorgionds Weise war es am wenigsten, beim
Malen so in's Einzelne zu gehen. Eine ähnliche Feinheit der Aus-
führung zeigt der Christus mit dem Zinsgroschen, von dem wir später