Volltext: Geschichte der Italienischen Malerei vom vierten bis ins sechzehnte Jahrhundert (Bd. 2)

Tizian. 
Farbenwirkung, 
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Venedig erschüttert die Seele gewaltig. Allein das sind nur ,Aus- 
nahmen, geschaifen gleichsam als Zeugen für die umfassende Spann- 
kraft seines Geistes. Die weitaus überwiegende Masse seiner Werke 
schildert eine ganze, volle, glückliche Existenz in beseligter Ruhe, die 
auch da nur selten zu einem Jubel der Begeisterung sich vcrsteigt, 
wie er berauschend aus der Himmelfahrt der Maria uns entgegen 
schallt. Und wenn der Meister nicht müde wird, solche vollkräftige, 
edle Erscheinungen, in denen die Stimmung eines goldnen Zeitalters 
wie ein Klang aus einem verlornen Eden fast wehmüthig uns ergreift, 
in's Leben zu rufen, so erkennen wir darin den Abglanz seiner eige- 
nen hochbeglückten Existenz, der unvergleichlichen Harmonie seines 
Wesens.  
Hier ist denn der Punkt, von wo wir das Hauptmittel der Dar- 
stellung in Tizian's Kunstweise, die Farbe, zu erörtern haben. Sie 
ist bei ihm, ohne alle Nebenbeziehungen, mit einem Worte der natür- 
liche Ausdruck der schönen Wirklichkeit. Wenn andre grosse Üoloristen 
durch besondere Feinheiten und selbst Capricen in der Farbenwirkung 
geheimnissvolle, romantische Stimmungen wecken wollen, so ist Tizian 
davon frei. Seine Gestalten lauschen nicht verführerisch aus durch- 
sichtigem Dammerschein hervor, noch verbergen sie sich in Dunkel, 
um mit pikanten Liehtwirkungen zu überraschen. Nur einmal hat 
Tizian solchem Hange nachgegeben, in dem schon erwähnten Bilde 
des heiligen Laurentius, aber offenbar nur, um durch die Nacht und 
die Beleuohtungsefekte den widrigen Eindruck einer solchen lllarter- 
scene abzuschwachen. Im Uebrigen liebt seine Kunst den vollen, 
klaren Tag, und seine Gestalten strahlen, vom Sonnenschein umtlossen, 
wie lichtgesättigte Gebilde uns in die Seele. Vollends, wo er den 
menschlichen Körper in unverhüllter Schönheit zu geben hat, da liebt 
er, wie man es richtig bezeichnet hat, ihn gleichsam mit Licht im 
Licht zu malen und fast ohne Schatten ihn bloss durch die Abstufung 
warmer und kalter Töne zu modelliren. Diese Gestalten voll Schön- 
heit und Adel sind die beste Widerlegung gegen die wunderlichen 
Vorwürfe, dass Tizian sich nicht auf die Zeichnung verstanden habe. 
Schon Lionardo war es nicht entgangen, dass in der Natur von Um- 
risslinien nirgends die Rede sei, dass jeder feste Contour nur durch 
eine Abstraktion gewonnen werde, weil das Auge alle Gegenstände 
umhüllt von den dazwischen liegenden Luftschichten erblickt, welche 
die Gränzen jedes Körpers leise umschleiern. Erst mit dieser Be- 
obachtung der Luftperspektive beginnt die neue Aera der Malerei,
	        
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