Volltext: Geschichte der Italienischen Malerei vom vierten bis ins sechzehnte Jahrhundert (Bd. 2)

516 
Buch. 
XII. 
Kapitel. 
Venezianer. 
so entgegengesetzte Kunstprinzipien wie die venezianische Farbe und 
die florentinische Zeichnung sich nicht mit einander verbinden lassen, 
hat noch zu Tizian's Lebzeiten Tintoretto bewiesen, der sein grosses 
Talent mit den misslungenen Versuchen marterte, das Kolorit der 
Venezianer mit der Zeichnung Michelangelds zu verschmelzen. Tizian 
dagegen, obwohl er nicht in direkter Weise die Antike nachahmte, ist 
dennoch von der Grundlage einer verwandten Lebensanschauung aus 
zu einer Nachschöpfung der Antike gekommen, die nicht minder rein 
ist als ihre herrlichsten Marmorgebilde, und doch ein wärmeres, innigeres 
Leben aushaucht. Man darf ihn auch darin mit dem ihm innerlich 
wahlverwandten Goethe vergleichen, dessen Iphigenia allerdings eine 
noch seelenvollere Wiederbelebung griechischer Gestalten ist, während 
alle akademischen Antiken französischer und italienischer Dichter leb- 
lose Schatten sind. 
In ähnlichem Sinne, wie es von den griechischen Bildwerken 
gilt, kann man bei den Gestalten Tizian's von ihrer Natürlichkeit 
sprechen. Aber es ist eine auf die höchste Stufe der Schönheit, Kraft 
und Gesundheit erhobene Natur, frei von all jenen Kümmerlichkeiten, 
jenem Zufälligen und Kleinlichen oder gar Hasslichen, in welchem man 
unter unserm nordischen Himmel von jeher seit den Tagen Dürer's 
bis auf die Gegenwart das Wesentliche der Natur zu Enden geglaubt 
hat. Es ist also im vollen und besten Sinn eine idealische Natur, 
nicht eine nach Abstractionen idealisirte, sondern eine aus der Fülle 
und Tiefe künstlerischer Anschauung wiedergeborne. Vergleicht man 
beispielsweise mit den Gestalten des Venezianers diejenigen der Schule 
von Brabant, den lebensmächtigen Rubens an der Spitze, so erkennt 
man leicht ein verwandtes Vollgewicht der Erscheinung, ein ähnliches 
Mark des Lebens: aber wie weit überragt der Italiener an Adel und 
vornehmer Würde, an maassvoller Anmuth und Feinheit den Nieder- 
länder, dessen derberes Geschlecht mehr auf Thatkraft als auf ruhiges 
genussvolles Dasein angelegt ist. 
Damit gewinnen wir einen weiteren Zug in der Charakteristik 
der tizianischen Kunst. Zwar fehlt es dem Meister nicht an Begabung 
für Schilderung leidenschaftlichen Alfekts, energischer Thatkraft. Seinem 
durch Brand zerstörten Schlachtbilde im Saale des grossen Rathes wird 
es an feurigem Ungestüm nicht gemangelt haben; seine Grablegung 
ist ein Wunder ergreifenden Seelenschmerzes; sein Martyrium des 
heiligen Petrus durchklingt ein wilder Sturmaccord des Leidens, und 
auch der Martertod des heiligen Laurentius in der Jesuitenkirche zu
	        
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