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Buch.
XII.
Kapitel.
Venezianer.
so entgegengesetzte Kunstprinzipien wie die venezianische Farbe und
die florentinische Zeichnung sich nicht mit einander verbinden lassen,
hat noch zu Tizian's Lebzeiten Tintoretto bewiesen, der sein grosses
Talent mit den misslungenen Versuchen marterte, das Kolorit der
Venezianer mit der Zeichnung Michelangelds zu verschmelzen. Tizian
dagegen, obwohl er nicht in direkter Weise die Antike nachahmte, ist
dennoch von der Grundlage einer verwandten Lebensanschauung aus
zu einer Nachschöpfung der Antike gekommen, die nicht minder rein
ist als ihre herrlichsten Marmorgebilde, und doch ein wärmeres, innigeres
Leben aushaucht. Man darf ihn auch darin mit dem ihm innerlich
wahlverwandten Goethe vergleichen, dessen Iphigenia allerdings eine
noch seelenvollere Wiederbelebung griechischer Gestalten ist, während
alle akademischen Antiken französischer und italienischer Dichter leb-
lose Schatten sind.
In ähnlichem Sinne, wie es von den griechischen Bildwerken
gilt, kann man bei den Gestalten Tizian's von ihrer Natürlichkeit
sprechen. Aber es ist eine auf die höchste Stufe der Schönheit, Kraft
und Gesundheit erhobene Natur, frei von all jenen Kümmerlichkeiten,
jenem Zufälligen und Kleinlichen oder gar Hasslichen, in welchem man
unter unserm nordischen Himmel von jeher seit den Tagen Dürer's
bis auf die Gegenwart das Wesentliche der Natur zu Enden geglaubt
hat. Es ist also im vollen und besten Sinn eine idealische Natur,
nicht eine nach Abstractionen idealisirte, sondern eine aus der Fülle
und Tiefe künstlerischer Anschauung wiedergeborne. Vergleicht man
beispielsweise mit den Gestalten des Venezianers diejenigen der Schule
von Brabant, den lebensmächtigen Rubens an der Spitze, so erkennt
man leicht ein verwandtes Vollgewicht der Erscheinung, ein ähnliches
Mark des Lebens: aber wie weit überragt der Italiener an Adel und
vornehmer Würde, an maassvoller Anmuth und Feinheit den Nieder-
länder, dessen derberes Geschlecht mehr auf Thatkraft als auf ruhiges
genussvolles Dasein angelegt ist.
Damit gewinnen wir einen weiteren Zug in der Charakteristik
der tizianischen Kunst. Zwar fehlt es dem Meister nicht an Begabung
für Schilderung leidenschaftlichen Alfekts, energischer Thatkraft. Seinem
durch Brand zerstörten Schlachtbilde im Saale des grossen Rathes wird
es an feurigem Ungestüm nicht gemangelt haben; seine Grablegung
ist ein Wunder ergreifenden Seelenschmerzes; sein Martyrium des
heiligen Petrus durchklingt ein wilder Sturmaccord des Leidens, und
auch der Martertod des heiligen Laurentius in der Jesuitenkirche zu