Tizian.
Seine
Kunstweise.
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einige von seiner Hand herrührende noch immer zu den schönsten
Fresken der Welt. Dagegen wies ihn die geistige Richtung seiner
Kunst sowie die Ausdrucksmittel, deren er dafür bedurfte, fast aus-
schliesslich auf das Tafelbild und die Oelmalerei hin.
Den ruhigen Zustand eines schönheiterfüllten, lustvcrklärten
Menschendaseins mit allem Zauber der Farbe zu ewiger Dauer zu er-
heben, das ist der eigentliche Inhalt seiner Kunst. Treffender kann
man das Wesen dieser Schöpfungen nicht bezeichnen, als mit den
Worten Kugler's: „Was bei Giorgione noch als der Ausdruck einer
herben glühenden Kraft erschienen war, löst sich hier und gewinnt
das Gepräge einer freien, offenen und heiteren Schönheit, einer schönen
und edlen Menschlichkeit. Tizian ist es, dessen Gestalten das voll-
kommenste Bewusstsein, den höchsten Genuss des Daseins abspiegeln.
Eine selige Befriedigung, so ähnlich den Marmorbildern des griechi-
schen Alterthums und doch so verschieden ein ruhiges Genügen,
eine harmonisch gleichmässige Existenz spricht sich überall in ihnen
aus. Darum wirken sie so wohlthuend auf das Gemüth des Beschauers,
darum theilen sie ihm, obgleich sie häufig nur ein Abbild des Nächsten
und Bekannten, nur Darstellung schöner Formen ohne weitere Rück-
sicht auf geistige Verhältnisse und überirdisehe Begriffe zu enthalten
scheinen, durchweg eine reinere und erhöhte Stimmung mit. Es ist
das Leben in seiner vollsten Potenz, es ist die Verklärung des irdischen
Daseins ohne Nimbus und ohne Opferblut; es ist die Befreiung der
Kunst aus den Banden kirchlicher Dogmen." Das ist freilich die
Tendenz der ganzen italienischen Kunst jener grossen Epoche. Jeder
der damaligen Meister malte noch religiöse Gegenstände; aber sie
wurden nicht mehr wie früher aufgefasst. Ehemals hatte die Kunst
der Kirche gedient; jetzt musste die Kirche mit ihrem ganzen historisch-
dogmatischen Apparat der Kunst dienen. Ehemals mussten die Maler
die heiligen Geschichten malen, weil ihr Pinsel die Lehre der Kirche
predigen sollte; jetzt malten und meisselten die Künstler die kirch-
lichen StoHe nur, um an ihnen alle Schönheit, deren sie fähig waren,
zu entfalten. Keiner hat aber die Schönheit der einfachen menschlichen
Existenz so entschieden in den Vordergrund gestellt wie Tizian.
Mit Recht hat man von unserm Meister gesagt, er habe besser
als jeder Andere die Natur gesehen und wahr wiedergegeben. Es
war ein Glück für Tizian's Kunst und zeugt von seinem richtigen,
sicheren Gefühl, dass er sich nicht auf Zeichenstudien nach der Antike,
nicht auf Nachahmung der Weise Michelangelds einliess. Dass zwei