514
III.
Buch.
Kapitel.
XII.
Die
Venezianer.
erscheint dies als der einzige Schatten in einer solchen Ueberfülle von
Licht, wie eine nothwendige Sühne für eine so wunderbare Gunst des
Geschickes. Aber wir dürfen nicht ausschliesslich vom beispiellosen
Glück des Meisters sprechen. Wir müssen nicht vergessen, dass es
in dem schönen Gleichmaass seiner Natur, in der seltensten Harmonie
von Geistigem und Sinnlichem begründet war.
Als Vasari 1566 nach Venedig kam, besuchte er Tizian „als seinen
lieben Freund". Er fand ihn, „obwohl hoch an Jahren, den Pinsel in
der Hand, mit Malen beschäftigt und hatte grosse Freude, seine Werke
zu sehen und sich mit ihm zu unterhalten. In seinem Hause sah
man alle Fürsten, Gelehrte und vorzügliche Personen, die zu seiner
Zeit nach jener Stadt kamen oder dort lebten; denn nicht nur war er
trefflich in der Kunst, sondern auch sehr liebenswürdig, war vorzüglich
durch Sitten und zeichnete sich durch ein gefällig-es Wesen aus." Als
im Jahre 1576 die Pest den neunundneunzigjahrigen Meister sammt
seinem Sohne und Schüler Orazio hinralfte, endete eine der reichsten
und glücklichsten Existenzen, die je einem Künstler beschieden war.
Wenn man heute über die Kunstweise Tizian's sprechen will, so
bedarf es wohl keiner-Verwahrung mehr gegen einige uns wunderlich
klingende Urtheile, welche von einseitigen Standpunkten aus früher
mehrfach über ihn gefällt worden sind. Vasari, in der Anschauung der
florentinisch-römischen Schule aufgewachsen, spricht an mehreren Stellen,
indem er Tizian's Farbe überaus lobt, von einem Mangel an gründ-
licher Kenntniss der Zeichnung, der den grössten Maler verhindert
habe, das Höchste zu erreichen. Tizian will allerdings nicht mit dem
Maassstabe jener gedanklich tiefen Werke gemessen werden, in denen ein
Thema des Glaubens oder abstrakter Erkenntniss in reich gegliedertem
architektonischen Aufbau durchgeführt wird. Nur einmal, obendrein in
seiner Jugendzeit (1508), hat der Meister einen Versuch auf diesem Ge-
biete gemacht, indem er einen Holzschnitt herausgab, der in "einer
unendlichen Menge von Figuren" den Triumph des Glaubens darstellte.
Wir wissen nicht, dass er später bei reiferer Ausbildung seines Wesens
jemals zu ähnlicher Richtung zurückgehehrt wäre. Daher haben wir
bei ihm nicht von solchen ausgedehnten Fresken zu reden, wie sie den
Schwerpunkt der Thätigkeit RafaePs und Michelangelds bilden. Aller-
dings hat auch Tizian Fresken gemalt, und wenn auch von denen des
Fondaco de' Tedeschi, des grossen Rathsaales, der Justizhalle zu Vi-
cenza, der Facaden des Palazzo Grimani nichts erhalten ist, so gehören
wenigstens unter den Wandbildern der Scuola del Santo zu Padua