Tizian.
Aeussere Verhältnisse.
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daher seine Schwester Orsa zu sich und verliess zugleich seine mitten
in der Stadt bei San Samuele gelegene Wohnung, um sich in einem
abgelegenen Theile Venedigs, fern vom Geräusch, an der nördlichen
Seite dicht am Meere anzusiedeln. Sein Haus war mit einem schönen
Garten umgeben, welcher die Aussicht über die weite Wasseriläche
bis nach der fernen Insel Murano, dem alten Ausgangspunkte der
venezianischen Malerschille, gewährte. Den Horizont schlossen die feinen
schimmernden Linien der Alpenkette, die Berge seines Geburtslandes,
die Schauplätze seiner Kindheit. Hier lebte er in behaglicher Unab-
hängigkeit der Kunst und dem erheiternden Verkehr mit seinen Freun-
den; hier empfing und bewirthete er, schon sechsundneunzigjährig,
König Heinrich III. von Frankreich nebst zahlreichem Gefolge in wahr-
haft fürstlicher Weise. Hier war der Schauplatz jener reizenden ge-
selligen Unterhaltungen, von denen ein dabei Betheiligter, F rancesco
Priscianese, in einem 1553 veröffentlichten Briefe eine so anziehende
Schilderung entwirft. In dem prächtigen Garten Tizian's versammelten
sich Jacopo Sansovino, Pietro Aretino, Jacopo Nardi (der berühmte
iiorentinische Geschichtsschreiber) und der Erzähler. Unter Besichtigung
der Gemälde, mit denen das Haus angefüllt war, und unter geistvollen
Gesprächen verflog die Zeit bis zum Abend. Als die Sonne gesunken
war, und das Meer und die fernen Inseln in rosig goldene Lichtströme
sich tauchten, belebte sich die weite Wasserfläche mit unzähligen Gondeln,
von denen das Lachen schöner Frauen, untermischt mit Gesang und
Lautenklangen, herüberschallte. Die kleine erlesene Gesellschaft aber
sass, angesichts dieser anmuthigen Scenerie, in der erquickenden Kühle
beim köstlich bereiteten Abendmahle bis tief in die Nacht hinein.
Zu andern Stunden mochte wohl der Meister, im höchsten Alter
noch voll Jugendfrische, am Abende seines Lebens hier sinnend weilen,
nach den fernen Bergen seiner Heimath hinüberblicken und die lange
Reihe seiner glückgesegneten Jahre an sich vorüberziehen lassen. Was
ein Erdendasein schmücken und erheben kann, das hatte er in reichstem
lllaasse genossen: die höchste Kraft künstlerischer Begabung und eine
über die gewöhnlichen Gränzen weit hinausreichende unerschöpfliche
Lebensfülle. Das Bild ursprünglichster Gesundheit und Tüchtigkeit des
Geistes und des Körpers, schien er der zerstörenden Macht der Zeit
Trotz zu bieten. Jeder höchste Erfolg in seiner Kunst, Ruhm, Ge-
winn und Anerkennung der Besten beglückte ihn und blieb ihm bis
an das späte Lebensende treu. Wenn sein bevorzugter Sohn Pomponio
durch aussohweifendes Leben dem Vater manchen Kummer machte, so
Lübke, Italien. Malerei. II. 33