508
Buch.
XII.
Kapitel.
Die
Venezianer.
dürftige Spur einer über dem Eingang gemalten Justitia hat die Zer-
störungen der Zeit überdauert. Als bald darauf (1511) Giorgione durch
frühen Tod hingeraHt wurde, lag für den glücklichen Tizian die Bahn
nunmehr offen, auf der er in einem fast hundertjährigen Leben unan-
gefochten seine Kunst zu den höchsten Triumphen führen sollte.
Vergleichen wir den ferneren Lebensgang Tizian's etwa mit dem
RafaePs, so tritt uns ein schlagender Gegensatz entgegen, der auch für
die von Beiden vertretenen Kunstrichtungen bezeichnend ist. Rafael
wächst in der Waldeinsamkeit seiner umbrischen Heimath auf erfüllt
sich mit der Gemüthsinnigkeit der Kunst Peruginds, strebt dann in
ein freieres Leben hinaus und nimmt die ganze Frische und charakter-
volle Energie der florentinischen Schule in sich auf, um endlich in der
Hauptstadt der Christenheit die Frucht eines kurzen, aber vielfach
bewegten Bildungsganges in Werken von grossartigem Umfang und
nnermesslicher Gedankentiefe niederzulegen. Tizian, ebenfalls ein Sohn
des Gebirges, gelangt frühzeitig nach der reichen, seebeherrschenden
Handelsstadt, eignet sich die Kunstweise, die sich dort aus dem Wirken
einer Reihe tüchtiger Meister entwickelt hatte, mit grosser Begabung
an und bildet den schon aus der Knospe hervorbrechenden Stil Venedigs
zu üppiger, vollendeter Blüthe aus. Dem wirklichen Leben, den Aeus-
serungen der Natur mit offenem Blicke zugethan, empfängt er keine
fremden Einflüsse; in reiferen Jahren besucht er Rom und erfreut sich
an Michelangelds und RafaePs unsterblichen Werken, ohne sich in
seinem eigenen Wege beirren zu lassen. Vielmehr wendet er seine,
auf dem Boden Venedigs erwachsene Kunstweise gleichmässig auf alle
Gebiete der Darstellung an, schliesst zwar tiefsinnige gedankenhafte
Compositionen aus, giebt aber in allen seinen Werken ein zum Idealen
erhöhtes, künstlerisch verklärtes Dasein, und beschliesst so, fast ohne
alle Wandlungen des Stiles, eine schöpferische Laufbahn, die an Zeit-
dauer die-RafaePs um mehr als das Doppelte überragt. Was sich in
der Reihe seiner Werke an Verschiedenheiten bemerklich macht, be-
ruht mehr auf einer aus den natürlichen Verhältnissen, aus dem zu-
nehmenden Alter und der Massenhaftigkeit der von ihm geforderten
Produktion nothwendig sich ergebenden Aenderung im Grade der Aus-
führung, als auf einer Wandlung des Stiles.
Suchen wir für Tizian's künstlerische Entwicklung nach äusseren
Anhaltspunkten, so scheint es zunächst nicht ohne Bedeutung, dass in
den Briefen, welche Albrecht Dürer 1506 aus Venedig schrieb, seiner
mit keiner Silbe gedacht, der damals achtzigjährige Giovanni Bellini