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Buch.
Kapitel.
Die Venezianer.
Sammlung befindliches, gleich den vorgenannten aus Poggio Imperiale
stammendes Bild tragt noch so sehr das Gepräge Bellini's, dass man
es diesem zugeschrieben hat; aber schon der novellistisch phantastische
Charakter des Bildes spricht mehr für Giorgione. Denn obwohl es die
Madonna mit einer knieenden Heiligen und mehreren Andern, darunter
den h. Paulus und Petrus enthält, liegt der Darstellung doch ein tieferer
allegorischer Gedanke zu Grunde; darauf deutet in der Mitte des Bildes
ein Orangenbailm, dessen Früchte von nackten Knaben herabgeschüttelt
und von anderen mit bezaubernder Naivetät gesammelt werden. Auch
hier bildet eine feine Landschaft den Hintergrund, welche als idyl-
lische Staffage einen Centaur, einen Hirten mit seiner Heerde und
einen Einsiedler enthält.
Diese kleinen Bilder aus der Jugendzeit des Künstlers verrathen
schon deutlich den Weg, welchen sein selbständiger Genius einzu-
schlagen im Begriff war. Aehnliches gilt wie es scheint von einem
grösseren Bilde, der Geburt Christi, welches aus der Galerie Fesch in
die Sammlung Beaumont nach London gelangt ist und sich wieder
durch eine treffliche Gebirgslandschaft auszeichnet; ebenso von einem
kleinen Bilde der Anbetung der Könige zu Leigh Court, Welches
von Crowe und Cavalcaselle dem Bellini abgesprochen und Giorgione
beigelegt wird. Dass alle diese Werke dem grossen Altarbild von
Castelfranco in der Zeit vorausgehen und also für die stilistische Ent-
wickelung Giorgionds von grossei" Bedeutung sind, leidet wohl keinen
Zweifel. Sie zeigen unverkennbar, wie er aus Technik, Formen und
Anschauungen Bellini's hervorwuchs und sich erst allmählich zu grös-
serer Selbständigkeit erhob.
Ümfangreichere Altarbilder scheint Giorgione nur ausnahmsweise
noch geschaffen zu haben, und was ihm von solchen Werken zuge-
schrieben wird, ist keineswegs zweifellos. Dies gilt zunächst von dem
Altarbild in S. Rocco in Venedig, welches in Halbiiguren den Heiland
unter der Last des Kreuzes darstellt, wie er in vornehmer Ruhe den
Beschauer anblickt,_wahrend ein halbnackter Henker in scharfer Profil-
stellung durch die Gemeinheit des Typus und des Ausdrucks den Adel
in der Hauptfigur nur noch schärfer hervortreten lässt. Ein Alter und
ein im Halbdunkel kaum sichtbarer Wächter dienen zur weiteren Ver-
stälrkung des Gegensatzes. Solche psychologische Kontraste hahen_
auch Tizian in seinem Christus mit dem Zinsgroschen vorgeschwebt,
und auch das Bild in S. Rocco ist von älteren Berichterstattern bald
Tizian bald Giorgicne zugeschrieben worden. Auffassung und Behand-