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Buch.
XII.
Kapitel.
Die Venezianer.
und selbst auf seinen Meister Bellini gewann. So wurde er der Be-
gründer des grossen freien Stils der Venezianer und führte ihre Malerei
zu jener Höhe, auf welcher Tizian und die Seinen sicher fussen und
sich machtvoll in die Breite entfalten konnten. Giorgione selbst war
es aber vom Geschick nicht vergönnt, die Früchte seines Strebens zu
ernten. Schon im Jahr 1511 raffte ihn ein frühzeitiger jäher Tod hin.
Nach Ridolfi starb er aus Schmerz über die Untreue seiner Geliebten
und die Undankbarkeit eines Schülers, der sie ihm entführte; nach
Vasari wäre er durch die geliebte Frau von der Pest angesteckt worden,
wogegen freilich zu sprechen scheint, dass diese Seuche damals in
Venedig nicht aufgetreten ist. Wie dem auch sein mag, eine glühend
leidenschaftliche Natur haben wir ohne Zweifel in Giorgione zu er-
kennen, und sie mag zu seinem frühen Untergang mit beigetragen haben.
Von den Werken des Meisters ist nur Weniges auf uns gekommen,
da Vieles untergegangen oder durch spätere Üeberarbeitung bis zur
Unkenntlichkeit entstellt ist. Namentlich haben wir den Untergang
seiner sämmtlichen Fresken zu beklagen, was um so mehr zu bedauern
ist, da er in dieser den Venezianern sonst wenig geläufigen Technik
vorzugsweise sich auszeichnete. Es wird erzählt, dass er sein eigenes
Haus in Venedig an der Faeade mit Bildern geschmückt habe, durch
welche er bald die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Er
habe dann bald den Auftrag bekommen, an verschiedenen Palästen
Aehnliches auszuführen. S0 malte er am Palazzo Loredan Wappen-
schilde und Atlanten, Löwenköpfe und allegorische Gestalten von Tu-
genden, darunter die lebenglühende Figur der Fortitudo. Ebenso malte
er die Facade des Palazzo Soranzo bei San Polo, wo er nach Vasarfs
Ausdruck eine Menge Begebenheiten und Phantasieiiguren anbrachte,
unter denen ein Bild des Frühlings von demselben Berichterstatter als
eines der schönsten Werke gerühmt wird. In solchen Arbeiten überbot
er alle seine Zeit- und Landsgenossen dermassen, dass er bei dem
Neubau des 1504 abgebrannten Kaufhauses der Deutschen den ansehn-
lichen Auftrag erhielt, die ganze gegen den Kanal gelegene Seite mit
Fresken zu schmücken. Dass er dabei älteren Meistern wie Bellini
und Carpaccio vorgezogen wurde, kann nicht wundernehmen, wenn
man erwägt, dass diese fast ausschliesslich sich der Tafelmalerei wid-
meten und dass Facadendekorationen nach Schätzung und Bezahlung
schon damals einen untergeordneten Rang einnahmen. Giorgione malte
an den unteren Flächen stattliche Reiteriiguren in Colonnaden, an den
Friesen, durch welche er die Stockwerke abtheilte, Trophäen, nackte