Bernardino
Luini.
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Das Herbe, Leidenschaftliche ist nicht sein Reich, und selbst die Männer-
oder Greisenköpfe haben mehr den Charakter milder Gelassenheit, als
energischer Thatkraft. Für figurenreiche Compositionen fehlt ihm der
grosse einfache historische Zug und der lautere Rhythmus der Anord-
nung. In solchen Schöpfungen hält er sich nicht frei von der naiven
Üeberladung der älteren Zeit, und selbst das Raumgefühl und der
Maassstab der einzelnen Gestalten ist nicht immer mit Sicherheit ge-
handhabt. Aber er entschädigt dafür durch die oft hinreissende Schön-
Christus unter den Schriftgelehrten,
Luini.
London
heit, die zarte Reinheit, den seelenvollen Ausdruck seiner jugendlichen
Köpfe und Gestalten, nicht minder durch das schöne warme Kolorit
und die liebevolle Sorgfalt der Durchbildung.
Zu seinen früheren Arbeiten darf man wohl mehrere trefflich
ausgeführte Bilder rechnen, in welchen er, vielleicht noch unter der
unmittelbaren Leitung Lionardds, Entwürfe dieses grossen Meisters
benützt hat. Dahin gehört das schöne in der Nationalgalerie zu Lon-
don befindliche Bild, welches den zwölfjährigen Christus unter den
Schriftgelehrten darstellt. (Fig. 105.) Man kann die göttliche Reinheit
einer edlen Jünglingsseele im Gegensatz zu irdischer Verschlagenheit