Buch,
I. Kapitel.
Die Kunst der ital.
Hochrenaissance.
musste doch derselbe mühvolle Entwicklungsgang innerhalb der strengen
zünftischen Gliederung durchgemacht werden, und das unablässige
Ringen nach der technischen Vollendung und wissenschaftlichen Be-
gründung, Welches allein dem Kunstwerk seinen höchsten Werth ver-
bürgte, gab dem Geiste ein hohes Ziel, das nur mit Anspannung aller
Kräfte zu erreichen war.
Obwohl nun schon im 15. Jahrhundert das Ideal der Künstler
nicht mehr ein spezifisch religiöses war, sondern in erster Linie sich
auf vollkommene Lebenswahrheit, Kraft und Mannichfaltigkeit der
Charakteristik wendete, war es doch von grösster Bedeutung für das
stete Fortschreiten der Kunst, dass ihr immer auf's Neue dieselben,
durch eine geheiligte Tradition überlieferten Aufgaben, gestellt wurden.
Sie brauchte nicht, wie die heutige Kunst, auf der Hetzjagd nach
immer neuen Stoffen ihre beste Kraft zu erschöpfen, sondern sie theilte
mit der griechischen Plastik in ihrer besten Zeit den beneidenswerthen
Vorzug, an den Gestalten, welche in der Anschauung des gesammten
Volkes als ideale Traumgebilde lebten, fortbildend und umgestaltcnd
ihre geschlossene Kraft bethätigen zu können. So entstanden ein
Zeus und eine Athena des Phidias, eine Hera des Polyklet, so ent-
standen die Madonnen eines Lionardo, Rafael und Fra Bartolommeo.
Aber die Malerei begnügte sich nicht mehr im Sinne des 15. Jahr-
hunderts, das einfach Natürliche und Wirkliche in diesen Gebilden zu
erreichen, sondern sie schöpfte aus den Meisterwerken der antiken
Plastik und mehr noch aus dem eignen ailfs Höchste gesteigerten
Schönheitsgefühl den Trieb, über das Alltägliche wieder zu Gestalten
höchster Schönheit und Idealität durchzudringen. Hier ist es denn
auch, wo die Lauterkeit der sittlichen Empfindung; sich glänzend offen-
bart, denn wer würde bei jenen Madonnen der edelsten Meister, oder
bei den hoheitvollen Frauenbildern eines Lionardo vermuthen, dass sie
in derselben Zeit und in demselben Volke entstanden sind, dessen
Dichter in erdrückender Mehrzahl -vom weiblichen Geschlecht die
schlimmsten Vorstellungen in naiver Schamlosigkeit aussprechen. Was
die italienische Malerei damals Hohes geschaffen hat, gehört zu den
köstlichsten Gütern der Menschheit, und der Werth desselben wird
nicht geschmälert durch die Wahrnehmung, dass allerdings dieser hohe
Idealstil nach kurzer Blüthe bald in eine leere convcntionelle Form
sich verllüchtigte.
In diesem Sinne dürfen wir Wohl einen vergleichenden Seitenblick
auf den grossen deutschen Meister werfen, der um dieselbe Zeit, fast