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III. Buch.
VII.
Kapitel
Leo
unter
Rafael
vor, sondern wahrscheinlich eine von G. Romano ausgeführte Bearbei-
tung nach dem ersten Entwurf des Meisters. Von einzelnen Studien
nennen wir die prächtige Figur des köpflings in's Wasser stürzenden
Verwundeten in Chatsworth und die beiden den vorderen Nachen an-
fallenden Kriegerin Oxford. Den Karton, von welchem ein Theil sich
in der Ambrosiana zu Mailand befindet, hat G. Romano ausgeführt.
Die" beiden anderen Fresken, die Taufe Constantins und die (an-
gebliche) Schenkung Roms an den Papst sind tüchtige lebensvolle Cere-
monienbilder, wahrscheinlich von G. Romano entworfen. Die Vollendung
des ganzen Saales erfolgte, wie wir aus einem Briefe des Grafen Casti-
glione an Herzog Federigo von Mantua erfahren, im Sommer 1524.
Wir stehen am Ende mit dem Leben und Wirken eines der
grössten Meister der Kunstgeschichte und blicken auf einen Entwick-
lungsgang zurück, wie ihn das Dasein keines andern Künstlers bietet.
In der reichen Anlage dieses göttlichen Genius ist nicht bloss die uner-
schöpfliche leichtströmende Phantasie, sondern mehr noch das edle Maass
zu bewundern, welches in allen seinen Schöpfungen waltet und ihn wie
einen nachgebornen Hellenen erscheinen lässt. Zugleich aber bei einer
unbeirrbaren Selbständigkeit des Empfindens war in ihm eine glückliche
Gabe, jede seinem Wesen gemässe Richtung in sich aufzunehmen und
zur eignen Entwicklung zu verwenden. Ünablässig zu lernen, seinen
Geist zu bereichern, seine Formenwelt und seine Technik zu vervoll-
kommnen, war das Ziel und die sittliche That seines Lebens. Nie
stand er auf dem Wege still, nie ruhte er müssig auf dem Erworbenen;
desshalb giebt es in seinem ganzen Schaffen keinen Moment, wo das
Gewonnene zur conventionellen Formel erstarrte. Unermüdlich viel-
mehr schöpfte er aus dem ewig frischen Jungbrunnen der Natur, so
dass wir von keinem andern Meister einen solchen Reichthum an Studien-
blättern aufzuweisen vermögen. Mit den kindlich zarten Formen und
der innigen Empfindung der umbrischen Schule beginnend, eignete er
sich in den frischesten Jugendjahren den freien Natursinn und die un-
befangene Lebensauffassung der Florentiner an, um endlich auf der
Weltbühne Roms, durch die Anschauung der Antike und den Wetteifer
mit Michelangelo, jenen grossen, freien, hochidealen Stil zu entwickeln,
in welchem christliche Gedankenwelt und antike Formenherrlichkeit,
lyrische Innigkeit und dramatische Machtfülle sich zu einem unver-
gleichlichen Ganzen verschmelzen. J a sogar die scheinbar widerstrebende
Koloristik der Venezianer wusste er sich so weit zu eigen zu machen,
dass nicht bloss seine Bildnisse, sondern auch Werke wie die Madonna