352
Buch.
Kapitel.
VII.
Rafael unter Leo
dort oben schwebt, erhebt dieses Werk zu einem Meisterstück drama-
tischer und zugleich feierlich-kirchlicher Composition. Die oberen Theile
sind von duftig zarter Färbung, die unteren aber zeigen in der gar
zu scharfen Modellirung mit schweren Schatten und in den grellen
Farbentönen eine starke Mitwirkung der Schüler, namentlich Giulio
Romands, der nach Rafael's Tode auch den Rest des Honorars von 224
Dukaten erhielt. Der Kardinal konnte sich übrigens nach dem Heim-
gange des Meisters nicht entschliessen, das Bild von Rom fortzusenden.
Es blieb daher einige Zeit in der Cancellaria, der Wohnung des Be-
stellers, und wurde dann von ihm auf den Hauptaltar von S. Pietro in
Montorio gestiftet. Durch die Franzosen in der Revolutionszeit ent-
führt, wurde es in Paris gereinigt, 1815 zurückgegeben und in die
Gemäldegalerie des Vatikan aufgenommen.
Aus einer grossen Anzahl herrlicher Röthelstudien zu dem Bilde
erkennen wir, mit welcher Sorgfalt der Meister dieses Werk vorbereitet
hat. Kurz vor seinem frühen Ende nahm er noch einmal seine ganze
Kraft zusammen, um gegenüber den immer schnöder auftretenden Ur-
theilen seiner Gegner zu beweisen, was er vermöge. S0 wurde das
Werk das letzte Zeugniss seiner auf's Höchste angespannten Schöpfer-
kraft. Die Albertina besitzt die nach dem nackten Modell gezeich-
neten Studien zu dem vorn sitzenden Andreas und noch einmal zu
derselben Figur nebst dem dahinter stehenden und hinaufzeigenden
Jünger (Br. 140). Den Kopf des Andreas in der Grösse der Aus-
führung, prachtvoll in schwarzer Kreide gezeichnet, sieht man im
Brit. Museum (Br. 93), die Köpfe und Hände des sich vorbeugenden
Jüngers und des älteren Apostels neben ihm in ähnlicher Art, nur
noch effektvoller, in Oxford (Br. 57). Ein Nacktstudium zu den drei
Jüngern in der Mitte des Bildes, mit dem Rothstift gezeichnet, be-
sitzt die Albertina (Br. 139), ein ähnliches zu dem besessenen Knaben
und seinem Vater die Ambrosiana (Br. 128). Eine Skizze nach dem
nackten Modell zu dem sich vorbeugenden jugendlichen Apostel und
dem hinter ihm stehenden Hinaufzeigenden "bewahrt das Louvre, eben-
falls in Rothstift prachtvoll ausgeführt (Br. 254). Die grosse Feder-
zeichnung der ganzen Composition in nackten Figuren in der Albertina
kann dagegen nicht als Original RafaePs, sondern höchstens als Kopie
nach einem solchen gelten. Noch merkwürdiger ist eine Anzahl von
Studienblättern, welche Rafael um dieselbe Zeit für eine Auferstehung
Christi entworfen hat. Die erste Skizze befindet sich in London bei
W. Mitchell, der obere Theil der Composition ist in einer Federzeichnung