320
Buch.
Kapitel.
unter Leo
Rafael
der Elende, in herber Grossartigkeit mit dem stupiden Blick und den
verkrüppelten Gliedern charakterisirt, bilden ergreifende Contraste.
Wie Petrus ihn kräftig mit der Rechten fasst und ihm aufzustehen
gebietet, wie Johannes mitleidvoll gegen ihn die Hand ausstreckt und
edle Menschlichkeit im Namen des Erlösers sich erbarmend über tiefen
Jammer ausgiesst, das ist von ergreifender Gewalt. Lebhaft wird das
zuschauende Volk von dem Wunder ergriffen, besonders in den Grup-
pen zur Linken, wo schöne Frauen mit kräftigen nackten Kindern
herbeieilen und den Gegensatz gesunden blühenden Lebens vor Augen
bringen. Zur Rechten dagegen schleppt sich auf seiner Krücke, auf
den Knieen rutschend, ein andrer Bettler heran von nicht minder ab-
schreckender Hässlichkeit; man glaubt aber in seinem Gesichte die
Hoffnung zu lesen, dass auch ihm geholfen werden könne. Um von
diesem peinlichen Anblick uns zu befreien, hat Rafael hier eine schöne
junge Mutter, ihren Säugling auf dem Arm, angebracht, die mit inni-
gem Mitgefühl dem Ereigniss aufmerksam zuschaut.
Noch gewaltiger steigert sich die dramatische Spannung in der
nach der Apostelgeschichte V dargestellten Bestrafung des Ananias.
Auf einer erhöhten von Schranken eingefassten Estrade steht die Gruppe
der Apostel, feierliche Gestalten von einer an Masaccio erinnernden
Grösse und Gewalt. Vor ihnen ist eben Ananias mit der falschen
Angabe seines Vermögens erschienen, aber auf das Donnerwort des
Petrus: „Du hast nicht den Menschen, sondern Gott gelogen", ist er
entseelt zusammengebrochen. In furchtbarcr Verrenkung der Glieder
liegt er am Boden, und in den entsetzt zurückweichenden oder heran-
drängenden Umstehenden spricht sich der Eindruck der Katastrophe
mit erschütternder Tragik aus. Der streng auf ihn hinweisende Petrus,
der das vernichtende Wort gesprochen, erhält eine weitere Bekräftigung
durch die düstere Gestalt eines andern Apostels, der drohend zum
Himmel empor zeigt, um das Strafgericht Gottes anzudeuten. Noch
verhängnissvoller wirkt das Ereigniss in die Zukunft hinaus, denn
halbverdeckt von Andern, die ihre Gabe als Opfer herbeibringen, er-
scheint Sapphira links im Hintergrunds. Unkundig des Schicksals, das
ihren Mann betroHen, ist sie ganz vertieft in das Zählen ihres Geldes
und ahnt nicht, dass dasselbe Verhängniss ihr bevorsteht. Die Ver-
bindung dieser getrennten Scenen in eine Gruppe ist wieder einer der
grössten dramatischen Meisterzüge. Nicht minder glücklich hat Rafael
die rechte Seite des Bildes benutzt, um zu zeigen, dass es die Armen
sind, welche von dem Betrug getroffen werden sollten. Denn hier