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Buch.
Kapitel.
Rafael unter Leo
und zugleich so herrlich sein künstlerisches Glaubensbekenntniss ab-
gelegt wie hier. Denn anstatt der unnahbaren Hoheit der Sibyllen der
Sixtina, entzückt uns hier die ganze liebenswürdige rafaelische Anmuth,
und obwohl auch diese Gestalten von schwungvoller Begeisterung
erfüllt sind, so bleiben sie uns doch durch die milde Schönheit der
Köpfe, durch die entzückende Anmuth der Gewänder und den Adel
der Bewegungen menschlich nahe. Hier ist nichts Gewaltsames zu
überwinden, sondern wie eine holde Melodie schmeicheln sich die
Formen in unsre Seele, und das Auge wird nicht müde, die reiche
Mannichfaltigkeit des rhythmischen Lebens, die köstlichen zur Harmonie
verbundenen Contraste, die bei aller Freiheit hohe architektonische
Gesetzmässigkeit zu bewundern. Auch die Farbenwirkung ist voll
feiner Harmonie; von einem braunen Grunde heben sich die lichten
Gestalten in warmer, klarer ,Färbung ab; die Modellirung ist in zarten
luftigen Tönen ohne alle Schwere durchgeführt; in den Gewändern
giebt das Gelb den Grundakkord an. Eine geistvolle Röthelstudie zu
der an den Bogen gelehnten Sibylle befindet sich in Oxford (Br. 41),
die köstliche Studie zu dem links schwebenden Engel, nackt und be-
kleidet, in der Albertina (Br. 1.65). Üeber den Sibyllen malte Timoteo
Viti nach RafaePs Entwürfen vier Propheten, würdevolle Gestalten, in
deren Gewändern aber unruhig schillernde Farbentöne sich bemerklich
machen. Eine treffliche Röthelstudie RafaePs zum Daniel sieht man
in den Uffizien (Br. 497).
Hatte der Meister bei den Sibyllen noch überwiegend eigenhändig
sich der Ausführung widmen können, so musste er dagegen bei einem
weiteren grossen Auftrage für den Vatikan sich in umfassender Weise
seiner Schüler bedienen. Es galt, die Loggien in dem von Bramante
erbauten Hofe des h. Damasus mit Fresken zu schmücken, und zwar
jenen Flügel dieser offenen Pfeilerhallen, welcher sich den Stanzen
unmittelbar vorlegt. Die dreizehn mit Flachkuppeln überwölbten Ar-
kaden des zweiten Stockwerke sollten mit gemalten Ornamenten und
Stuckdekorationen geschmückt werden, welche in dem Reichthum einer
geradezu unerschöpflichen Phantasie, in der geistvollen Aufnahme und
Fortbildung antiker Dekorationen, in dem zauberischen Spiel der Far-
ben unvergleichliche Pracht mit köstlicher Heiterkeit verbinden. Gio-
vanni da Udine war es namentlich, der sich durch die Ausführung
dieser Dekoration seinen Ruhm erwarb. (Fig. 74.) Die Kuppelgewölbe
aber theilte Rafael in vier Felder, auf welchen er zweiundfünfzig Scenen
aus der Bibel, mit Ausnahme von vieren ausschliesslich dem alten