Brand
Borgo.
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treten. Vor ihr enteilt eine Frau, auf dem Arm einige rasch zusammen-
geraffte Kleider tragend, und treibt ihre beiden nackten Kinder mit
den Mienen des Entsetzens vor sich her.
Ist auf dieser Seite das weibliche Element vorwiegend, so sieht
man auf der Linken hauptsächlich die Flucht der Männer und Greise.
Prachtvoll ist namentlich der markige Jüngling, welcher sich von einer
hohen Mauer herablässt und sich zum Sprünge auf die Erde anschickt.
Neben ihm hat ein andrer sich auf die Zehenspitzen gehoben, um ein
Wickelkind aufzufangen, welches die Mutter von der Mauer herabzu-
reichen im Begriff steht. Noch herrlicher ist die Gruppe im Vorder-
grund, die an Aeneas und Anchises erinnert, denn ein kräftiger jüngerer
Mann trägt seinen greisen Vater auf den Schultern in's Freie: eine
Gruppe, die schon durch die wundervolle Führung der Linien von
unvergleichlicher Herrlichkeit ist. Neben ihm hält sein Knabe mit dem
Vater gleichen Schritt und blickt ermuthigend zu ihm auf, während
die Mutter mit angstvollen Geberden ihm folgt. Beide Seitengruppen
werden in der Mitte durch eine Gruppe von Frauen mit ihren Kindern
auf's Schönste verbunden. Während die eine, ihr nacktes Kind im
Schoosse, am Boden hockt und voll theilnehmenden Staunens nach der
rührenden Familienscene hinblickt, streckt eine zweite, die sich mit
dem Rücken gegen den Beschauer auf die Kniee geworfen hat, die
Arme leidenschaftlich Hehend gegen den in der Tiefe des Bildes er-
scheinenden Papst aus. Dorthin wendet sich auch die dritte Frau, die
ihr Kind niederknieen und die Händchen bittend erheben lässt.
So ist in genialer Weise der Vordergrund mit dem Hintergrunde
des Bildes verbunden, wo man die Facade der bedrohten alten Peters-
kirche sieht, davor aber die Ecke des päpstlichen Palastes, wo der
Papst mit seinem Gefolge in einer Loggia erscheint, die Hand zum
Zeichen des Kreuzes erhebend, um dadurch den Brand zu löschen. Vor
dem Palast aber auf den zu demselben emporführenden Stufen sieht
man ein Gewirr von Männern, Weibern und Kindern, die mit dem
Instinkt der Angst den Papst um Hülfe aniiehen. Wäre Rafael der
höfische Künstler gewesen, für welchen die Gedankenlosigkeit ihn bis-
weilen ausgeben möchte, so hätte er sicherlich die Figur des Papstes
lebensgross in den Vordergrund gebracht und alles Andere ihr unter-
geordnet. Aber grade hier bewährt er sich wieder als der hohe Meister
voll freien Geistes, der keine andere Rücksicht kennt, als die seines
künstlerischen Gewissens. S0 muss denn der Papst räumlich mit einer
untergeordneten Stelle vorlieb nehmen, wird aber geistig doch zum