Befreiung.
Petri
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oben über dem Fenster sieht man den Kerker, hinter dessen Gitter
der Apostel in Schlummer versunken ruht, an Händen und Füssen
mit Ketten gefesselt. Die beiden Wächter, die sich vom Schlaf über-
mannt, an die Wand lehnen, bemerken nicht, wie die Lichtgestalt
eines Engels, von Strahlenglanz umilossen, sich über den Schlummernden
neigt, um ihn aufzuwecken. Diese Scene ist in ihrer Einfachheit-von
ergreifender Wahrheit und durch die magische Beleuchtung von wun-
dergleicher Wirkung. An der rechten Seite sieht man nun, wie der
von einer Lichtaureole umstrahlte Engel den staunenden Apostel an
der Hand gefasst hält, um ihn aus dem Kerker zu geleiten und sorg-
lich durch die beiden auf den Stufen vor dem Kerker in tiefsten Schlaf
versunkenen Wächter in's Freie zu führen. Auch hier ist Alles so
fesselnd erzählt, dass der Zuschauer fast in athemlose Spannung ver-
setzt wird. Auf der linken Seite sieht man ebenfalls zwei Wächter
auf den Stufen ausgestreckt; aber ein dritter, der eben mit einer
Fackel herbeieilt, weckt den einen auf, indem er nach dem Kerker
hinweist, zum Zeichen, dass das ungewöhnliche Ereigniss von ihm be-
merkt worden ist. Der betroffene Ausdruck und die erstaunten Be-
wegungen des aufgeschreckten Schläfers, im Gegensatz zu der noch
ungestörten Ruhe seines schlummernden Gefährten und dem unruhigen
Auffahren eines vierten, der im Hintergrunde sichtbar wird und sich
gegen das blendende Licht der Fackel mit vorgehaltenem Arm zu
schützen sucht, alles das ist von erstaunlicher Wahrheit momentanen
Geschehens, Die Mondessichel, halb von Wolken verdeckt, giesst ihren
milden Schein über die Scene, in Wirksamem Contrast mit den scharfen
Lichtern, welche die Fackel auf die Rüstungen der Wächter wirft.
Es ist wohl das erste Beispiel solcher künstlichen Beleuchtungseffekte
im Bereich monumentaler Malerei, zugleich ein hoher Beweis von der
Meisterschaft, mit welcher Rafael die Freskotechnik beherrschte und
von der koloristisehen Vollendung", zu der er sich aufgeschwungen hatte.
Um so höher steht diese Wirkung, da sie nicht um ihrer selbst willen
erstrebt ist, sondern nur um die im_ Stoff liegenden Bedingungen mit
voller malerischer Freiheit zum Ausdruck zu bringen. Man kann daher
sagen, dass dieses Bild den benachbarten in seiner Weise ebenbürtig ist.
In der Wahl der Gegenstände dieses Zimmers spielten die Be-
ziehungen auf zeitgeschichtliche Vorgänge eine grosse Rolle. Heli0d0r's
Züchtigung sollte an die Vertreibung der Feinde aus dem Kirchenstaat,
die Messe von Bolsena an die vermeintliche Besiegung der Irrlehren
zu Anfang des 16. Jahrhunderts, Attila's Zurückweisung an die Ver-