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Buch.
Kapitel.
unter
Rafael
J ulius
selbständiger Genialität der Eriindungskraft, dass an keinen Anderen
zu denken ist. Zunächst sind fast alle Figuren" nackt gezeichnet oder
nur mit eng anliegenden, die Formen mehr verrathenden als verhül-
lenden Lederpanzern bekleidet. Sodann füllt das Gewimmel der Hunnen
den ganzen Vordergrund des Bildes, denn während die Hauptgruppe
rechts im Wesentlichen dem Gemälde entspricht, hat der Künstler
links noch drei Reiter und vier Fussgänger angebracht, welche mit
allen Zeichen des Schreckens und Entsetzens im Anblick der himm-
lischen Erscheinung zusammenfahren. Wer sich an der Zugabe einiger
in Wolken schwebender Engel stösst, hat übersehen, dass dieselben
später von andrer Hand hinzugefügt worden sind, um das ursprüng-
lich im Halbrund schliessende Blatt viereckig zu machen. 'Wichtiger
dagegen ist die Veränderung in der Figur Attila's, der nur mit dem
einen Arme zurücktährt, während er mit der rechten Hand sich gegen
das Blendende der himmlischen Gestalten zu schützen sucht. Wie sehr
der Ausdruck Attila's an Prägnanz und einheitlicher Stimmung ge-
wonnen hat, indem der Künstler auf dieses doppelte Motiv verzichtete
und ihn mit beiden Armen sich in jähe Umkehr und Flucht werfen
lässt, liegt auf der Hand. Aber auch einen andern grossen Fortschritt
that Rafael, als er die Gruppe des auf seinem Zelter heranziehenden
Papstes, die man auf dem Entwurf ganz fern im Hintergrunds sieht,
in den Vordergrund rückte und die prächtigen Figuren der dort an-
gebrachten, wild bewegten Hunnen opferte. Denn es ist nicht minder
zweifellos, dass er dadurch die ganze Wucht der leidenschaftlichen
Bewegung auf Attila selbst und seine nächsten Begleiter concentrirte
und durch den Gegensatz der päpstlichen Gruppe den Eindruck steigerte.
Endlich erreichte er dadurch, dass der Papst, wie die Legende be-
richtet, mit in die Handlung eingreift, während er nach dem ersten
Entwurfe eigentlich post festum gekommen wäre. Dies ist einer der
vielen Fälle, wo wir bei Rafael, indem wir in die Werkstatt des
schaffenden Genius blicken, mit wachsender Bewunderung die Weisheit
seines künstlerischen Verfahrens erkennen. Auch dieses Bild voll Feuer
und Leben erhielt durch die glänzende Kraft der Farbe, durch die
energische Frische der Gestalten und die feine Abtönung des Hinter-
grundes hohen malerischen Reiz.
Als letztes Bild dieser Reihenfolge entstand an der zweiten Fenster-
wand die Befreiung Petri. Der Künstler hat hier die durch das
einschneidende Fenster bedingte Form des Bildes zu einer Darstellung
benutzt, welche drei Momente der Handlung umfasst. In der Mitte