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Buch.
Kapitel
B afael
Julius
unter
Wir kehren nun zu den monumentalen Arbeiten im Vatikan zu-
rück, wo Rafael in den Jahren 1511 bis 1514 das zweite Zimmer, die
sogenannte Stanza d'Eliodoro ausführte. Hier tritt plötzlich ein
scharfer Wendepunkt in seiner Entwicklung hervor. Hatte er in der
Stanza della Segnatura die geistigen Mächte des Lebens in einem
ruhigen, nur leise bewegten Zusammensein bedeutender Gestalten ge-
schildert, so ward ihm nun eine Aufgabe geboten, die ihn mitten in
das Reich des historisch Dramatischen führte. Der Gedankengang ist
hier: die Kirche unter dem mächtigen Schutze Gottes darzustellen.
Ob vielleicht ursprünglich der Gedanke nahe gelegt wurde, Zeitereig-
nisse in realistisch historischer Darstellung vorzuführen, Wissen wir
nicht; wir sehen nur, dass die Stimmung der Auftraggeber ideal genug
war, um Rafael nichts zuzumuthen, was gegen seine künstlerischen
Ueberzeugungen gewesen wäre. Wie die Griechen, als sie ihre Siege
über die Perser künstlerisch zu verherrlichen sich ansehickten, die
Ereignisse der Gegenwart sich im Spiegel des Mythos und der Sage
retlektiren liessen, so suchte auch die rafaelische Zeit durch Zurück-
greifen in eine sagenhafte Vorzeit das, was die Gegenwart bewegte,
künstlerisch zu verklären. S0 entstanden die vier grossen Wandbilder
dieses Zimmers, indem man zeitlich Weit auseinander liegende Themata
verband, die indess durch den gemeinsamen zu Grunde liegenden Ge-
danken geeint und durch die höchste künstlerische Kraft in lebendige
Wirklichkeit übertragen wurden.
Das erste dieser Bilder, nach welchem das Zimmer den Namen
führt, schildert nach dem zweiten Buch der Makkabäei- (II. 23) die
Vertreibung des syrischen Feldherrn Heliodor aus dem Tempel von
Jerusalem. (Fig. 69.) Schon hat der freche Tempelräuber sich der
Schätze bemächtigt und ist mit seinen reichbeladenen Begleitern im
Begriff, den geweihten Ort zu verlassen; da sprengt auf feurigem Ross
ein goldgepanzertel" himmlischer Reiter herbei, begleitet von zwei Jüng-
lingen, die wie im Fluge kaum den Boden berühren und in den Händen
Greisseln schwingen. Der plötzliche Anprall hat den Tempelschänder
zu Boden geworfen, dass diegoldene Urne mit den geraubten Schätzen
seiner Hand entsinkt. Vergeblich sucht er sich mit der Linken auf-
zustützen und mit dem in der Rechten hochgehobenen Speer gegen
den furchtbaren Reiter zu schützen. Wir sehen, dass er im nächsten
Augenblick, von den Rosseshufen zermalmt, unrettbar dem Verderben
erliegen wird. Diese Gruppe, welche die Hauptmomente des Drama's
so klar schildert und das Vorher wie das Nachher mit wunderbarer