Parnass.
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lettischen, während die dritte, schwungvoll bewegt, von der Macht der
Töne herbeigezogen, eben heranschreitet. Die Maske in ihrer Hand
scheint auf Melpomene zu deuten. Unvergleichlich hat Rafael schon
in diesen Gestalten mit psychologischer Feinheit die verschiedenen
Stimmungen von feuriger ErgriHenheit bis zu schwärmerischem Ver-
sunkensein geschildert. Um aber auch hier die architektonische Sym-
metrie in freies Leben aufzulösen, fügt er die herrliche Gestalt des
blinden Sängers Homer hinzu, der mit feierlich gehobenem Gestus den
rhythmischen Fall seiner Worte begleitet. Ihm lauschen Dante und
Virgil und mit noch erregterer Spannung ein begeisterter Jüngling,
der mit übergeschlagenen Knieen auf dem Felsen Platz genommen
hat, um die Worte des Sängers aufzuzeichnen.
Mit grossem Geschick hat Rafael neben dem Fenster eine tiefere
Felsterrasse angeordnet, auf welcher im Vordergrunde die herrliche
Gestalt der Sappho mit Lyra und Schriftrolle Platz genommen hat.
Sie wendet sich zu einer prachtvollen Gruppe von vier lorbeergekrönten
Dichtern, die in lebhafter Erörterung beisammen stehen. Man erkennt
unter ihnen Petrarca, während die übrigen nicht mit Bestimmtheit
nachzuweisen sind. Auf der anderen Fensterseite entspricht der Sappho
die ebenfalls sitzende Gestalt des ehrwürdigen Pindar, der mit dem
zu ihm heranschreitenden Horaz ein erregtes Gespräch beginnt, wäh-
rend ein dritter hinter ihnen stehender Dichter den Zeigefinger nach-
sinnend an die Lippen legt. Noch weitere fünf lorbeergeschmückte
Gestalten füllen hier den Hintergrund, die nicht mit Bestimmtheit fest-
zustellen sind. Wahrscheinlich schwebte Rafael eine Stelle im vierten
Gesang von Petra.rca's Triumph Amors vor, wo freilich noch manche
antike Dichter genannt Werden. Welche er davon. ausgewählt und Welche
gleichzeitigen Dichter er etwa hinzugefügt hat, Wissen wir nicht. So
ist das Ganze das köstlichste Bild erhöhter Daseinslust, edlen Lebens-
genusses auf den sonnigen Höhen der Renaissancebildting, würdevoll
und anmuthig zugleich, strahlend in rein menschlicher Schönheit, eine
der feinsten Blüthen des italienischen Humanismus. Auch zu diesem
YVerke hat sich eine Reihe von Studienblättern erhalten. Der erste
Entwurf nach dem Nackten gezeichnet, befindet sich in einer Kopie zu
Oxford (B:130); eine prächtige nackte Studie zum Apoll (der Arm mit
der Geige wiederholt) in der Sammlung zu Lille (Br. 93), zu den beiden
sitzenden Musen in der Albertina (Br. 169, 170), zum Dante ebendort
eine treffliche Federzeichnung (Br. 182), zur Melpomene in Oxford, zu
den Köpfen Homers, Virgil's und Dante's in Windsor (Nr. 6).