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Buch.
Kapitel.
Rafael unter
J ulius
der Composition endgültig festgestellt, denen sich dann leicht alles
Andere fügen mochte. Nachdem so das Ganze gesichert war (denn
ohne Frage gab es für die rechte Seite des Bildes ähnliche Entwürfe,
die uns nur nicht erhalten sind), wurden die Einzelheiten ebenso sorg-
fältig nach der Natur studirt. Wir zahlen im Ganzen 24 noch vor-
handene Studienblätter zur Disputa, welche den einzelnen Gestalten,
Köpfen, Händen und Füssen, sowie Gewändern gewidmet sind. Wir
blicken in das rastloseste, von göttlichem Schaffensdrang erfüllte Ar-
beiten des Künstlers hinein. Zugleich aber lässt er uns ahnungslos ein
süsses Liebesgeheimniss errathen, das ihn um jene Zeit beseeligt haben
muss, denn nicht weniger als fünf glühende Sonette hat er auf ein-
zelne Studienblätter hingeworfen.
Bewegte sich in der Disputa Rafael auf dem Boden mittelalter-
lich kirchlicher Anschauung, so führt er uns in dem zweiten, der Poesie
gewidmeten Wandbilde auf die sonnigen Höhen der Renaissancezeit.
Der P arnass, wie dies Bild _mit Recht genannt wird, erhielt seinen
Platz an einer der durch ein Fenster durehbrochenen Aussenwande des
Zimmers. Diese scheinbare Ungunst des Raumes wusste Rafael mit
hoher Genialität so geschickt für die Composition zu verwerthen, dass
jeder Zwang vergessen ist und Alles sich völlig frei gestaltet zu haben
scheint (Fig. 62). Wir sehen in der Mitte die Höhe des Helicon, von
welchem die Hippokrene herabrauscht. Auf wonnigem Rasensitze unter
schlanken Lorbeerbaumen, von der Schaar der Musen umgeben, thront
die Gestalt des sangeskundigen Gottes. Ein rother, auf den Schooss
herabgesunkener Mantel lässt die edlen Formen des jugendlichen Körpers
fast unverhüllt schauen. In naiver künstlerischer Freiheit hat Rafael
ihm statt der antiken Lyra die moderne Geige gegeben und dadurch
für die Gestalt eine schwungvollere Bewegung gewonnen. Neben ihm
haben zwei von den Musen Platz genommen, die eine hält eine mäch-
tige Tuba, die sie gegen den Schenkel stemmt; die andere, welche
sich mit der Rechten auf den Rasen stützt und sich gegen Apoll
wendet, um seinen Tönen zu lauschen, hat im einen Arm eine Lyra.
Wir haben in ihr Wohl die Erato, in jener die Klio zu erkennen. Hinter
Erato schliessen vier stehende Schwestern, darunter eine mit der Maske
der Komödie, also Thalia, die Mittelgruppe ab. Die grossartigste
unter ihnen wendet dem Beschauer den Rücken zu und zeigt den pracht-
vollen Faltenwurf ihrer Gewänder. Auf der andern Seite waren nur
noch drei Musen unterzubringen, von denen zwei sich innig an ein-
ander anschmiegen und schwärmerisch träumend den süssen Tönen