264
III.
Buch.
Kapitel.
Rafael unter J ulius
dann König David, der begeistert in die Harfe greift; weiter Stephanus
als Anführer der Märtyrer und zuletzt eine halb in Wolken verhüllte
Gestalt, vielleicht der Prophet Jeremias. Auf der andern Seite beginnt
auf dem äussersten Flügel Paulus mitSchwert und Buch, neben ihm
Abraham mit dem Opfermesser; dann folgt der Apostel Jakobus, Moses
mit den Gesetzestafeln, der Märtyrer Laurentius und zuletzt eine
Kriegergestalt, die vielleicht als Josua oder Judas Maccabäus zu deuten
ist. Auch hier bewundern wir den Adel und die Mannichfaltigkeit in
den Charakteren, die Schönheit der Bewegungen, den Reichthum
edelster Gewandmotive. Rafael hat zu reifer Schönheit entwickelt, was
im Fresko von S. Severo als Keim vorhanden war, und was in der
ersten Anlage auf Fra Bartolommeo und weiterhin auf Ghirlandajo
zurückzuführen ist. In dem feierlichen Aufbau und manchen Motiven
der Bewegungen, der Gewänder und dem Ausdruck der Köpfe erkennen
wir Anklänge an Fra Bartolommeo, aber zu voller Selbständigkeit
und zur höchsten Freiheit und Schönheit entwickelt. Unvergleichlich
wirkt namentlich die feierliche Ruhe, die glückselige Gewissheit himm-
lischer Freude in der oberen Abtheilung im Gegensatz zu der noch
von Zweifel, Kampf und Unruhe erfüllten untern Region. Endlich ist
das Ganze von einer Macht der Charakteristik, die ganz in strahlende
Schönheit getaucht ist, dass das Auge nicht satt wird zu schauen und
zu bewundern. Und diese Schönheit ist keine abstrakte, sondern sie
empfängt ihr eigenthümliches Merkmal durch den edlen Hauch christ-
licher Empfindung. Hier lebt noch einmal die tiefe umbrische Ge-
fühlsseligkeit in Rafael auf und befähigt ihn an der Schwelle einer
neuen Zeit, die das christliche Ideal in ein heidnisches aufzulösen im
Begriff stand, die kirchlich mittelalterliche Anschauung in einem höchsten
Meisterwerke der Kunst zu verklären und über das Ganze zugleich
einen Hauch antiker Herrlichkeit auszugiessen. Es ist ein ambrosia-
nischer Lobgesang in Farben, der die ganze Tiefe und Reinheit der
Seele RafaePs verkündet. Das grosse Werk strahlt in einem klaren
goldigen Farbentone, der noch an die florentiner Arbeiten des Meisters
erinnert. Bewundernswürdig erscheint, wie er bei der grössten Sorg-
falt in Behandlung des Einzelnen, die sich selbst in Schrafürungen mit
dem Pinsel al secco kund giebt, doch die bei so ausgedehnten Fresko-
bildern überaus schwierige Harmonie und Kraft der Gesammtwirkuug
erreicht und festgehalten hat.
Zu keinem Werke RafaePs besitzen wir eine solche Menge von
Studien und Entwürfen; grösstentheils sind wir durch dieselben in