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Buch.
Kapitel.
Rafael unter
J ulius
einander gereiht und ihre geistigen Richtungen nur äusserlich durch
hinzugefügte allegorische Figuren angedeutet. Auch die Frührenaissance
hatte ihrem Kultus des Genius häufig in bildnissartigen Gestalten Ge-
nüge gethan, und eine der vollständigsten derartigen Reihenfolgen hatte
Rafael im Schloss von Urliino ohne Zweifel selbst kennen gelernt.
Aber auch hier blieb alles vereinzelt ohne innere Beziehungen zu ein-
ander. Erst Rafael war es gegeben, eine ganze Welt von Gestalten,
die durch ein gemeinsames geistiges Band verknüpft werden, in grossen
zusammenfassenden Darstellungen zu vereinen, mit genialem Griff das
geistig Gemeinsame zur Anschauung zu bringen und Alles in lebendige
Beziehung zu einem Mittelpunkte zu setzen. So kommt ein dramatisches
Element zur Geltung, das in dem reich gegliederten Ganzen den herr-
lichen architektonischen Aufbau durchdringt.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass der gedankliche Inhalt dieses
grossen Cyklus dem Künstler gegeben wurde, und nicht minder, dass
ihm für das Einzelne der Rath der Gelehrten und Theologen des Va-
tikans zur Seite stand. Alles das beeinträchtigt nicht im Geringsten
die Selbständigkeit und den Werth seiner Erfindung, denn erst durch
die höchste künstlerische Genialität vermochte das abstrakt Gedachte
in Fleisch und Blut wirklicher Erscheinung überzugehen, sich in reine
Schönheit zu verklären. Das erste Bild, welches die Reihe eröffnet
und das nicht ganz zutreffend als „Disputa del Sagramento" be-
zeichnet wird, ist der Theologie gewidmet (Fig. 61). Es enthält in
der oberen Abtheilung nach mittelalterlichem Ausdruck die triumphi-
rende Kirche, in Verehrung der Dreifaltigkeit versammelt, in dQn
unteren die noch auf Erden weilende streitende Kirche. Für letztere
bildet der auf mehreren Stufen erhöhte Altar, welcher die Monstranz
mit der geweihten Hostie trägt, den Mittelpunkt. Ihm zunächst auf
der obersten Stufe sind die grossartigen Gestalten der vier Kirchen-
väter sitzend dargestellt. Links sieht man auf marmornem, schön ge-
schmücktem Sessel den h. Gregor in der päpstlichen Tiara, ein offenes
Buch mit der Linken auf das Knie stützend, während sein Buch über
Hiob, mit der Üeberschrift „Liber moralium" zu seinen Füssen liegt.
Mit dem Ausdruck gläubiger Hingebung richtet sich der Blick seines
markigen bartlosen Kopfes nach oben. Den wirksamsten Gegensatz
mit ihm bildet der neben ihm sitzende Hieronymus, der mit beiden
Händen die geöffnete Bibel vor sich auf den Knieen hält, in deren
Inhalt er sich mit tiefsinnig geneigtem Kopfe versenkt. Der fast kahle
Schädel des mächtigen Hauptes mit dem langen weissen Bart glüht